Ich – ein Hassprediger?

Dieser Artikel erschien mit geringfügigen Veränderungen in Weltwoche 48/2009 vom 25. November 2009

Der Abstimmungstermin rückt. Die Nervosität steigt. Denjenigen, welche die Minarettverbots-Initiative glaubten leichthin vom Tisch wischen zu können, fährt der Schreck in die Glieder: Die Stimmung in der Bevölkerung ist anders als erwartet. Die Veranstaltungs-Säle sind übervoll. Der Diskussionsbedarf unendlich. Debattiert wird engagiert, kontrovers, mit viel Einsatz – von Turbulenzen oder gar Saalschlachten indessen keine Spur. Die zahlreich den Abstimmungskampf verfolgenden Medienleute aus dem Ausland geben sich beeindruckt: Auseinandersetzungen auf dem beobachteten Niveau haben sie nicht erwartet. Auch kontroverse Debatten zwischen Schweizer Politikern und Muslimsprechern entgleisen in keiner Weise. Da findet freie Debatte statt zu einem sog. «sensitiven Thema». Das ist in einem Land mit direkter Demokratie möglich.

Klar wird höchstens: Die Classe politique, die mit demonstrativem «Von-oben-Herab» das ihr sichtlich gegen den Strich gehende Minarettverbot glaubte abkanzeln zu können, steht neben den Schuhen.

Das zeigte sich in den kantonalen und regionalen Delegiertenversammlungen der Mitte-Parteien für die Parolen-Fassung. CVP und FDP machten die gleiche Erfahrung: Selbst wenn ein prominenter eigener Sprecher gegen einen von weither geholten Exoten die Absage an die Minarettverbotsinitiative durchbringen sollte, manifestierte sich im Parteivolk die andere Meinung deutlich: Das Ja zum Minarettverbot findet offensichtlich auch in der FdP- und CVP-Basis grossen Zuspruch. Es bedurfte nicht selten nachdrücklicher Zurechtweisung durch Führungsfunktionäre, bis die Initiativbefürworter aus den eigenen Reihen wenigstens zur Stimmenthaltung überredet werden konnten – womit die Parteidoktrin wenigstens leidlich zur «Siegerin» ausgerufen werden konnte.

Aus solcher Erfahrung resultiert wohl jene Verwirrung, welche die FDP-Parteistrategen dazu hinreissen liess, ihren «Hassprediger-Anwurf» an die Adresse der Initiativ-Befürworter via Internet in die Öffentlichkeit zu schleudern. Welch bizarrer Vorwurf!

Ist denn jemand im Verlauf der Weltgeschichte je auf einen Hassprediger gestossen, der, bevor er seinen Tiraden freien Lauf liess, zuvor Unterschriften gesammelt hat? Hat sich ein Hassprediger, bevor er freitags seine Vorwürfe in die Welt zu setzen begann, je ins Parlament wählen lassen, um dort mit Anträgen um Mehrheiten zu kämpfen?

Doch in der Schweiz soll einer, der sich genau diesen Regeln unterzieht, plötzlich zum «Freitags-Aufpeitscher» mutieren, obwohl er sich in der laufenden Abstimmungsdebatte fast täglich kontradiktorischen, dem Publikum also Vergleiche erlaubenden Auseinandersetzungen stellt?

Welche Partei ist es denn, welche für sich in Anspruch nimmt, vor weit über hundert Jahren hierzulande jene Regeln durchgesetzt zu haben, die unserer direkten Demokratie ihren so eigenständigen Charakter geben – mit dem Initiativ- und Referendumsrecht nämlich? Das sind doch historische Errungenschaften und Verdienste der Liberalen, der Freisinnigen! Und jetzt stempeln die gleichen Freisinnigen Initianten, die genau diese liberalen Rechte in einer wichtigen Frage nutzen, zu «Hasspredigern»? Und bilden sie ab zusammen mit einem Terroristen, der in Madrid mit einem Anschlag auf einen Eisenbahnzug eine breite Blutspur hinterlassen hat? Ist es denn anlässlich des durchaus intensiven Abstimmungskampfes, in dessen Mittelpunkt ein von 113'000 Schweizerinnen und Schweizern unterzeichnetes Anliegen steht, auch nur zu einem einzigen Zwischenfall gekommen? Oder ist jetzt einfach jeder, der nicht den Parolen freisinniger Chefstrategen folgt, bereits ein Hassprediger?

Wie haben’s denn die Liberalen mit der freien Meinungsäusserung in der direkten Demokratie? Ist sie aus freisinniger Warte zu Ende, wenn es um Islamisierung, um ein Minarettverbot geht? Erleben wir das Ende des Freisinns?

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch