Mehr Bildung - weniger Reformitis

Erziehungswissenschafter im Widerstand gegen Lehrplan 21

In der Schweiz verstärkt sich der Widerstand gegen den Lehrplan 21. Das hinter verschlossenen Türen unter Millionen-Einsatz erarbeitete Konzept, das der Volksschule eine unklar definierte «Kompetenzorientierung» allen Unterrichtens vorschreiben will, stösst auch bei den bekanntesten Schweizer Erziehungswissenschaftern auf grosse Skepsis.

Diese Erziehungswissenschafter wenden sich mit einem Memorandum (siehe Kasten) an die Öffentlichkeit. Es sei als «Aufruf zur Besinnung» zu verstehen. Die anhaltende Reformhektik habe der Schweizer Volksschule vor allem Unruhe beschert. Man vermisse jede klare Orientierung angesichts des Wirrwarrs unkoordinierter, nie wirklich ausgewerteter Reformen.

Eine Übermacht von Experten versuche das Bildungswesen der Demokratie zu entreissen. Bei den Lehrern mache sich Frustration, Ermüdung und Aberwillen gegen den laufend wachsenden Reform-Bürokratismus immer stärker bemerkbar.

Die Unterzeichner
Das Memorandum wurde aber nicht von Lehrern formuliert. Dahinter stehen vielmehr die bekanntesten Erziehungswissenschafter der Schweiz. Es bringt nicht die Kritik derer zum Ausdruck, die dem von Reformhektik geprägten Schulalltag ausgesetzt sind. Es stehen die bekanntesten, an den Universitäten lehrenden Erziehungswissenschafter hinter dem Manifest.

Ihre Hauptkritik: Die Lehrplan-Macher reden zwar unablässig von der «Kompetenzorientierung» des künftigen Lehrplans. Dieser Begriff werde aber nirgends klar definiert. Er werde im Lehrplan-Entwurf ausgesprochen diffus, oft widersprüchlich und uneinheitlich verwendet – als eine Art «Allerwelts-Argument», mit dem unterschiedliche, teils gegenläufige Strömungen einander konkurrenzierender Expertengremien unterschiedliche Absichten umzusetzen versuchen.
Die Memorandums-Verfasser fordern daher nachdrücklich, dass sich die Lehrplan-Macher endlich zu einer wissenschaftlichen Diskussion zur angeblich wissenschaftlichen Untermauerung der den Lehrplan prägenden «Kompetenzorientierung» bereitfinden müssten. Damit greifen sie das Vorgehen der sich konsequent in der Anonymität versteckenden Lehrplan-Macher frontal an. Auch weil diese sich allen «Stimmen von unten», also den Einwänden der Lehrer mit ihrer Erfahrung aus dem Schulalltag beharrlich verschlossen haben.

Abschreckendes Beispiel
Die Erziehungswissenschafter untermauern ihre Kritik mit einem eindrücklichen Beispiel drastisch entgleisten Reformeifers. Dies, weil auch in der Schweiz Schulreformer mit dem Lehrplan 21 die sog. «phonetische Schreibweise» an der Unterstufe einführen wollten. Diese verbannt korrekte Rechtschreibung aus den Schulzimmern. Die Kinder sollten alle Wörter so schreiben, wie sie sie hören.

Dazu präsentieren die Schweizer Erziehungswissenschafter einen Erfahrungsbericht der deutschen Bildungskritikerin Heike Schmoll, der mit dieser abstrusen Reformidee gründlich aufräumt:
«In den ersten vier Klassen sollen Kinder die grundlegenden Kulturtechniken eigentlich so lernen, dass sie den Wechsel auf eine andere Schule bewältigen – doch das gelingt nicht. (…) Überall, wo etwa die phonetische Schreibung – und das womöglich bis zur vierten Klasse – praktiziert wird, wo Kinder also genau so schreiben, wie sie die Worte hören, die falsch geschriebenen Worte auch noch einprägsam an der Tafel sehen und die Korrektur erst am Ende der Grundschule einsetzt, haben sie grosse Rechtschreibeschwierigkeiten. In solch einer Hamburger Klasse war im vierten Schuljahr nur ein einziger Schüler in der Lage, flüssig zu lesen. Den Sinn des Textes hatte er allerdings auch nicht verstanden. (…) Auf die Frage, wieso sie sich für Zeitungen interessieren könnten, antwortet eine Viertklässlerin aus Bremen schriftlich: „Wall mann über die Zeitung erfahren kann. Und ich wörte gerne Reporterin werden. Es ist nämlich spannt in der Zeitung zu lesen. Wall das sind spannte Sachen drin sind.“ Ein anderer Schüler schreibt: „wall es schbas macht“.

Diese Texte sind keine besonders missratenen: In zwei vierten Klassen aus Bremen gibt es nicht einen einzigen Schüler, der fehlerlos schreibt. Über die heilsversprechende Methode, die diese Schüler in ihr Unheil geführt hat, kann nur spekuliert werden. Sicher ist, dass hier ganze Klassen in der weiterführenden Schule an ihrer Unfähigkeit, zu schreiben und zu lesen, scheitern werden.»

Anhörung oder Vernehmlassung?
Die Macher des Lehrplans 21 – deren Namen weiterhin der Öffentlichkeit verborgen werden – gehen noch immer von der Idee aus, zu diesem Lehrplan-Entwurf lediglich eine «Anhörung» durchführen zu wollen. Nicht eine echte Vernehmlassung, die gegebenenfalls zu einem Überdenken unhaltbarer Elemente im Lehrplan-Entwurf führen müsste. Für die Macher scheint festzustehen, dass diese Anhörung eine Art Gunstbezeugung an kritikfreudiges Publikum sei, nie aber dazu führen dürfe, die Grundpfeiler der von ihnen angestrebten Umwälzung der Schweizer Volksschule nochmals überdenken zu müssen.

Verharren die anonymen Lehrplan-Macher stur auf diesem Standpunkt, dann dürften der Schweizer Volksschule unruhige, konfliktgeladene Zeiten bevorstehen.

S.

Das Memorandum im Wortlaut:

Stopp der Reformhektik im Bildungswesen!

Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung! Nachhaltige Bildungsreformen brauchen Konsens!

Das Bildungswesen wird im Reformeifer der Verwaltungen immer mehr standardisiert und technisiert. Viele der eingeleiteten Reformen zeugen von politischer Hektik. Solche Entwicklungen schaden dem historisch gewachsenen Bildungswesen der Schweiz. Sie wirken als «von oben» verordnet. Bei vielen Bürgerinnen und Bürgern fehlt das notwendige Verständnis. Die öffentliche Kontrolle des Bildungswesens weicht einer demokratiefernen Expertokratie.

Durch Eingriffe der Verwaltung werden von der Lehrer- und Dozentenschaft gewünschte Reformen allzu oft abgewürgt. Ihr Engagement, ihre Erfahrung sowie ihr berufliches Wissen und Können werden zum Schaden unserer Bildungseinrichtungen weitgehend missachtet. Ergebnis sind Verunsicherung und Resignation der Unterrichtenden.

Die Bildungsverwaltung setzt auf modische Versprechungen und vertraut internationalen Organisationen wie etwa der OECD, statt Erfahrungen der Bildungspraktiker und vorgängiger Erprobung von Neuem. Bewährte Eigenheiten des schweizerischen Bildungswesens gehen so verloren.

Verschiedene «von oben» verordnete Bildungsreformen scheinen zudem zunehmend auf Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet zu werden, was nicht immer zu pädagogisch sinnvollen Reformen führt. Auch dafür haben Lehrpersonen und viele Bürgerinnen und Bürger oft wenig Verständnis.

Die Unterzeichnenden fordern:
Stopp der Reformhektik von Bildungsverwaltungen!
Bewährtes erhalten und pädagogisch sinnvoll weiterentwickeln!
Stärkung der im Bildungswesen tätigen Lehrpersonen! Freiräume für Bildungsreformen von unten!

Erstunterzeichner:

Prof. Dr. Walter Herzog (Präsident), Universität Bern, Institut für Erziehungswissenschaft (Abt. Pädagogische Psychologie)

Prof. Dr. Allan Guggenbühl (Vizepräsident), Leiter Abt. Gruppentherapie kantonale Erziehungsberatung der Stadt Bern, Leiter Institut für Konfliktmanagement und Mythodrama

Prof. em. Dr. Rolf Dubs, ehemals Institut für Wirtschaftspädagogik, St.Gallen

Prof. em. Kurt M. Füglister, ehemals Pädagogische Hochschule Basel (Fachdidaktik Biologie)

Prof. em. Dr. Peter Grob, ehemals Universitätsspital Zürich

Prof. em. Dr. Urs Haeberlin, ehemals Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg

Jürg Jegge, ehemals Stiftung Märtplatz

Prof. em. Dr. Remo Largo, ehemals Pädiatrische Universitätsklinik, Zürich

Prof. Dr. Fritz Osterwalder, Universität Bern, Institut für Erziehungswissenschaft (Abt. Pädagogische Psychologie)

Prof. Dr. Roland Reichenbach, Universität Basel (Forschungs- und Studienzentrum Pädagogik)

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch