Stirbt die Evangelische Kirche?

Leere Kirchen – politisierende Kirchen-Organe
Nicht bloss die leeren Kirchen, auch oft feststellbarer oberflächlicher Aktivismus scheint die Evangelische Kirche auszuhöhlen.

Interview mit Pfarrer Peter Ruch, Küssnacht am Rigi

Hat die Evangelische Kirche noch eine Zukunft? Die «Schweizerzeit» suchte dazu das Gespräch mit dem in Küssnacht am Rigi wirkenden evangelischen Pfarrer Peter Ruch.

«Schweizerzeit»: Vor allem die Evangelischen Kirchen beklagen oft gähnende Leere der Kirchen zum Gottesdienst. Noch mehr verwirrt die Suche nach neuen «Verwendungsmöglichkeiten» für Kirchen. Auch werden laufend neue «Sonder-Pfarrämter» geschaffen. Man könnte daraus schliessen, materielle Absicherung dominiere nicht unwesentlich evangelisches Engagement. Blutet die Evangelische Kirche aus?

Pfarrer Peter Ruch: Tatsächlich schrumpft die Kirche. Heute und möglicherweise auch morgen. Aber sie wird überleben.

Es gibt – neben der allgemeinen Säkularisierung – einen theologischen Grund für den Verlust der Evangelischen Kirche an Rückhalt in der breiten Bevölkerung: Die Evangelische Kirche ist in der Theologie und der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts stehen geblieben. Der Schritt in die Gegenwart ist ihr nur teilweise gelungen.

Wie meinen Sie das?

Es war die Dialektische Theologie und vor allem der Basler Theologe Karl Barth, der mit der Offenbarungs-Theologie ein reformatorisches christliches Menschenbild entworfen hat. Die Kirche insgesamt wurde davon aber (noch) nicht erreicht oder ist wieder ins 19. Jahrhundert zurückgefallen. Wenn die Evangelische Kirche Barths Hauptanliegen der Souveränität Gottes vernachlässigt und stattdessen alles dem Menschen anheimstellt, weicht sie den Ansprüchen heutiger Gläubiger und dem Evangelium aus.

Allerdings darf man auch nicht generalisieren. Wer sich nur an kirchlichen Zeitschriften und Äusserungen zu Tagesaktualitäten orientiert, gewinnt kein gültiges Bild der Evangelischen Kirche. Die Neigung, sog. «moderne Themen» moralisierend abzuhandeln, ist vor allem in den Medien heimisch und befremdet übrigens auch viele Gemeindepfarrer. In zahlreichen Gemeinden wird gute Arbeit geleistet, die in den Medien keine Resonanz findet.

Die Kirchen zur Einwanderung

Insbesondere die Einseitigkeit kirchlicher Organe zur Flüchtlingspolitik befremdet. Zumal dann, wenn zwischen echten, also persönlich bedrohten Flüchtlingen und illegalen Einwanderern, die mithilfe von Schleppern bloss nach möglichst besseren Lebensumständen suchen, bewusst nicht unterschieden wird.

Wer auf die gegenwärtige Entwicklung mit dem platten Ruf «Machet auf alle Tore» reagiert, übersieht die wahre Problematik – da haben Sie recht. Aber man muss anerkennen, dass Pfarrer Gottfried Locher, der Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK), ehrlich und überzeugend darum bemüht ist, pauschalen politischen Verlautbarungen entgegenzutreten. «Wenn wir also auch in Zukunft helfen wollen, wo Menschen an Leib und Leben gefährdet sind, dann müssen wir die Kraft aufbringen, in anderen Fällen auch Nein sagen zu können» (Locher). Dabei ist zu respektieren, dass Gemeinden unterschiedlich handeln – meist aus lokaler Erfahrung heraus. Wer Unterschiedliches mit Chaos verwechselt, übersieht die Wirklichkeit. In der Bibel ist die Gemeinde die Kirche. Jede Gemeinde ist ein wenig anders, wie auch die Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Ephesus usw. unterschiedlich waren.

Gleichwohl glaube ich, dass das Fehlen eines verbindlichen Bekenntnisses die Kirche schwächt. Es gibt Bemühungen, in dieser Beziehung weiterzukommen. Die Aufnahme des Glaubensbekenntnisses ins Kirchengesangbuch zeigt das.

In Polen sind die Kirchen voll

Ich war kürzlich in Polen. Mich hat beeindruckt, dass dort selbst die weltberühmten Kathedralen am Sonntag für Touristen geschlossen, also allein den Gläubigen für den Gottesdienst und die Messe reserviert sind. Und die Menschen strömen in Scharen zur Kirche.

Ähnliches habe ich in andern Ländern beobachtet. Dabei gilt es aber zu bedenken: Die Katholische Kirche war in Polen immer auch ein Hort nationaler Identität. Denn Polens Katholiken waren stets eingeschlossen zwischen den Orthodoxen im Osten und den Protestanten in Deutschland. Deshalb ist für Polen der Katholizismus auch Identifikation mit dem Heimatland.

Karol Wojtyła, Papst Johannes Paul II. hat diese Identifikation als kirchliche Autorität wirkungsvoller als jeder andere verkörpert – vor allem auch gegen die kommunistischen Machthaber. Innerkirchlich löste er allerdings mehr Stillstand als Entwicklungsschübe aus. Auf diese wartet die Katholische Kirche noch.

Christenverfolgung

Gegenwärtig erlebt die Welt massive, gewalttätige Christenverfolgungen vor allem im Nahen Osten. Die Evangelische Kirche hüllt sich dazu fast vollständig in Schweigen. Vom «Rat der Religionen», der in der Schweiz eine konfessionsübergreifende Autorität sein will, vernimmt man dazu kein einziges Wort. Auch die kirchlichen Medien schweigen – von wenigen, bescheidenen Ausnahmen abgesehen. Die Täter, verantwortlich für die Christenverfolgungen, werden offensichtlich geschont.

Allenfalls wird heute der Genozid an den christlichen Armeniern thematisiert. Dieser geschah indessen vor hundert Jahren. Zu dem, was heute geschieht, hüllt sich die Evangelische Kirche in Schweigen.

Schwere Christenverfolgungen sind gegenwärtig bittere Tatsache. Pfarrer Hansjürg Stückelberger, Gründer von Christian Solidarity International, hat dazu bewundernswerte Aufklärungsarbeit geleistet. Aber generell mangelt es an Solidarität mit den Verfolgten.

In den Gemeinden findet sie teilweise statt. Hier in Küssnacht am Rigi haben Katholiken und Protestanten gemeinsam in einem Schweigemarsch ihre Betroffenheit bekundet. Die Beteiligung war beachtlich – obwohl der Anlass sehr kurzfristig angesagt worden war.

Es bedrückt, dass andere Anliegen – Ökologie, tatsächlicher oder oft nur behaupteter Rassismus – die Schlagzeilen in den kirchlichen Medien stärker dominieren. Aber auch hier gilt: Die kirchlichen Medien sind nicht die kirchlichen Gemeinden!

Im Übrigen muss ich zugeben: Über das Geschehen im «Rat der Religionen» bin ich nicht im Bild. Er wird selbst von Pfarrern nicht stark wahrgenommen. Ich bin zwar durchaus der Meinung, dass es nützlich ist, mit anderen Religionen den Dialog zu pflegen. Dazu trägt dieses Haus der Religionen bis heute allerdings kaum bei.

Der Sonntag

Einst – vor noch nicht allzu langer Zeit – war der Sonntag ein Tag der Ruhe, ein Tag der Stille, ein Tag des Aufatmens, der Orientierung und der Orientierungssuche, ein Tag, der den Kirchen reserviert war. Doch heute erweckt die Kirche manchmal den Eindruck, erleichtert zu sein, dass sie inmitten all der hektischen sonntäglichen Betriebsamkeit wenigstens am Rande auch noch erwähnt wird. Dass der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag vor relativ wenigen Jahren noch – ohne dass dafür ein staatliches Verbot erforderlich gewesen wäre – ein autofreier Tag war, dürfte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung heute kaum mehr glauben.

Es stimmt: Der Sonntag ist heute der Tag aller überhaupt denkbaren, kaum je sehr tiefgründigen Betriebsamkeit. Das kam auch daher, dass die Vereine, deren Festivitäten früher eher an Samstagen stattfanden, heute den Sonntag als «ihren Tag» betrachten – inklusive den Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag.

Der Sonntag wurde innert weniger Jahre säkularisiert. Für Ruhe und Nachdenken nimmt sich heute kaum mehr jemand Zeit. Und es ist einzugestehen: Die Kirche hat sich gegen die Vereinnahmung des Sonntags für Betriebsamkeiten aller Art wenig gewehrt, sie hat höchstens politisch Partei ergriffen gegen liberalisierte Ladenöffnungszeiten. In vielen Gemeinden wird der Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen – zum Beispiel an Auffahrt – vernachlässigt. Dass der Staat die Feiertage wegen der Gottesdienste schützt, ist dem Bewusstsein vieler Leute entschwunden.

Der Glaube – ein «Konsumprodukt»?

Es gibt kirchliche Sprecher, welche den evangelischen Glauben heute als eine Art «Konsumprodukt» verstanden haben wollen, das sich – wie sie sagen – im Wettbewerb auf dem «Markt der Religionen» behaupten müsse. Was für Gedanken wecken solche Ankündigungen bei Ihnen?

Die Kirche hat in den letzten vierzig Jahren gar manchen «Modernisierungsschub» auslösen wollen – aber auch überlebt. Einiges ist sogar gelungen: Die Gottesdienste sind lockerer geworden, haben sich von Verkrampfungen gelöst. Aber den Glauben als attraktives Konsumprodukt «verkaufen» zu wollen – damit kann ich nichts anfangen. Was Jesus sagte, war oft alles andere als attraktiv.

Die Kirche hat den Auftrag, das Evangelium zu verkünden. Dies mit Erkenntnissen und Erfahrungen, die nicht alle gerne hören. Nicht wenige meiden den Gottesdienst, weil er ihnen persönlich als eine Art Gericht vorkommt – man denke an das Wort «abkanzeln». Das ist zu bedauern. Die Kirche darf sich nicht davon abbringen lassen, ihre Hauptaufgabe wahrzunehmen: Die Verkündigung des Evangeliums, also der guten und tröstlichen Botschaft von der Liebe Gottes.

Abfallentsorgung als Religionsersatz?

Manchmal gewinnt man heute den Eindruck, dass die Abfallentsorgung zum Religionsersatz geworden ist. Sie ist in kirchlichen Organen oft ausgewalztes Hauptthema – angeblich aus Verantwortung gegenüber der Schöpfung. Zur Masseneinwanderung, welche die Schöpfung zweifellos mindestens gleich schwer belastet, hüllen sich die Abfall-Gläubigen indessen in Schweigen.

Da äussern sich modernes Pharisäertum und politisch motivierte Rechthaberei. Viele Zeitgenossen, die vordergründig Atheisten oder Agnostiker sind, verfallen moralischen Ur-Reflexen. Die moralische «Tüpflischysserei», zum Beispiel Gartengewürze am Tempel zu versteuern, wird von Jesus als Heuchelei disqualifiziert. Heute gibts neue Varianten davon: Abfall säuberlich trennen, Autofahren ächten, die Leistungen des ÖV verschleudern, Energiewende, Verzerrungen bei der Migrationspolitik, Sozialstaat heilig sprechen, usw. Manches mag richtig sein, aber keineswegs erlösungsrelevant.

Der Islam

Wie begegnen Sie der Tatsache, dass sich heute viele, nicht zuletzt junge Leute vom Islam angezogen fühlen?

Freiheit selbstverantwortlich zu leben, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Viele, auch Junge empfinden es als attraktiv, sich an einer strengen Lehre, an strengen Gesetzen, wie der Islam sie einfordert, zu orientieren – in der Hoffnung, an solcher Unterwerfung zu erstarken.

Die Suche nach bleibenden Werten dürfte dabei eine Rolle spielen. Dem müssen auch die christlichen Kirchen Aufmerksamkeit schenken. Da hilft die Orientierung an Psalm 90: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden». Das Neue Testament stellt die Auferstehung der Toten in den Mittelpunkt. Letzte Erfüllung und Erlösung gibts nicht hier und jetzt. Wer seine Sterblichkeit hinnimmt und auf eine andere Dimension des Lebens vertraut, erfährt Befreiung und sucht den Frieden.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Wer den Auftrag, der ihm erteilt wurde, erfüllt – nicht nur oberflächlich, auch das Schwierige anpackend –, der erzielt auch heute Resonanz. Wichtig dabei ist, dass die Pfarrpersonen inmitten ihrer Gemeinde wohnen. So sind und bleiben sie Teil dieser Gemeinde, nicht zeitlich begrenzt ansprechbare «Jobber».

Das Interview führte Ulrich Schlüer.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch