Vernehmlassungsverfahren oder Polit-Spektakel

Verfassungsrat untergräbt seine Glaubwürdigkeit
Votum für die Pressekonferenz der SVP-Fraktion im Zürcher Verfassungsrat / 30. April 2003

Ihnen im Vorfeld der formell ersten Lesung zum Entwurf der neuen Zürcher Kantonsverfassung einfach noch einmal die wichtigsten Positionen der SVP in Erinnerung zu rufen ­ dafür allein hätten wir Sie nicht zu einer Pressekonferenz eingeladen. Auch wenn es nicht ganz unwichtig ist, vorzuzeigen, wo die stärkste Fraktion im Verfassungsrat ihre Schwerpunkte setzt.

Vor der ersten Lesung

Dazu nur soviel: Wir haben uns in der Vorberatung bekanntlich mittels vieler Anträge für eine freiheitlichere, dem Wohlfahrtsstaat abschwörende, Finanzdisziplin fordernde Verfassung eingesetzt. Ein gleich grosser Strauss von Anträgen ist von unserer Seite für die erste Lesung der Verfassung nicht mehr zu erwarten. Die SVP-Fraktion beschränkt sich auf Kernanträge zu unseren wichtigen Standpunkten. Andere Positionen und weitere Anliegen, die wir durchaus ­ auch für die Endabrechnung ­ aufrecht erhalten, werden wir jeweilen nur in den Eintretensdebatten zu den einzelnen Abschnitten der Verfassung summarisch in Erinnerung rufen ­ und in den Abstimmungen zum Ausdruck bringen.

Aussergewöhnliches Vernehmlassungsverfahren

Was die SVP-Fraktion mit grosser Besorgnis erfüllt, ist das gewählte Verfahren für die erste Lesung und das darauf folgende Vernehmlassungsverfahren.

Dieses öffentliche Vernehmlassungsverfahren ist von seiner gewählten Art her ungewöhnlich, wird doch das Ergebnis einer parlamentarischen Beratung der Vernehmlassung unterstellt. Sonst werden Vernehmlassungen bekanntlich generell vor Beginn des parlamentarischen Prozesses durchgeführt.

Dass der Verfassungsrat aufgrund seines besonderen Auftrags die Vernehmlassung erst an die erste parlamentarische Beratung anschliesst, dagegen opponiert die SVP nicht. Aber wir sind dezidiert der Auffassung, dass jeder Teilnehmer an der Vernehmlassung wissen soll und wissen muss, welchen Stellenwert der Verfassungsrat selber dem Ergebnis seiner ersten Lesung einräumt. Deshalb stellte die SVP in der Geschäftsleitung den Antrag, dass das Ergebnis der ersten Lesung einer eigentlichen Schlussabstimmung zu unterstellen sei. Damit die Öffentlichkeit klar erkennen kann, ob der Verfassungsrat insgesamt oder ob zumindest repräsentative Teile des Verfassungsrats wirklich auch hinter dem in der ersten Lesung beschlossenen Ergebnis stehen.

Verbindliche oder unverbindliche Schlussabstimmung

Die Öffentlichkeit muss, wenn sie zur Vernehmlassung aufgerufen wird, doch wissen: Wird der ihr vorgelegte Entwurf vom Verfassungsrat überhaupt getragen ­ oder wird bloss eine letztlich unverbindliche Auswahl von Ideen präsentiert, welche zu realisieren kein überzeugender politischer Wille feststellbar ist.

Bedauerlicherweise ist die SVP mit ihrem Antrag in der Geschäftsleitung nicht durchgedrungen. Die Idee, der Schlussabstimmung wenigstens ansatzweise verbindlichen Charakter zu verleihen, fand kein Echo. Die Mehrheit will der Öffentlichkeit nicht mehr als einen in keiner Art und Weise verbindlichen Ideenkatalog unterbreiten. Ein Vorgehen, bei dem ­ davon ist die SVP-Fraktion überzeugt ­ der Verfassungsrat markant an Glaubwürdigkeit einbüssen wird.

Aus einer jede Verbindlichkeit vermissen lassenden Auswahl von Ideen wird die Öffentlichkeit vor allem eine Schlussfolgerung ziehen: Es fehlt im Verfassungsrat an echtem Engagement, an wirklichem politischem Willen für eine neue Verfassung. Als Konsequenz werden sich insgesamt Zweifel gegenüber der ganzen Übung Verfassungsrevision breit machen.

Eine andere Debatte

Die SVP-Fraktion ist sich bewusst, dass die von ihr geforderte verbindliche, aussagekräftige Schlussabstimmung zur ersten Lesung des Verfassungsentwurfs der Debatte einen anderen Charakter verleihen würde, als das eine Beratung kann, die schliesslich bloss auf die Präsentation eines unverbindlichen Ideen-Strausses hinauslaufen wird. Muss eine Schlussabstimmung stattfinden, dann muss jede Fraktion Farbe bekennen. Die Diskussion würde verbindlich, würde engagiert geführt, verlöre jeglichen Anstrich unverbindlicher Beliebigkeit. Die politische Auseinandersetzung unterstünde dem Zwang, tragfähige Kompromisse aufzuzeigen und zu produzieren. Wer solcher Forderung nach echtem Engagement ausweicht, wird in der Öffentlichkeit höchstens Zweifel wach rufen, welche die Fortsetzung der Verfassungsberatung nur beeinträchtigen können.

Vernehmlassung als politische Kampagne

Dies um so mehr, als das Vernehmlassungsverfahren nachträglich mit einer weiteren Spezialität angereichert werden soll. Ursprünglich war vorgesehen, nicht zuletzt aus Kostengründen nur jene Parteien, Verbände, Organisationen und Körperschaften formell zur Vernehmlassung einzuladen, die in der Regel auch an Vernehmlassungen des Kantons beteiligt werden. Zusätzlich wurde die Öffentlichkeit mittels eines dem Stimm-Material für den 18. Mai beigelegten Prospekts ausdrücklich auf die Möglichkeit zur persönlichen Teilnahme eines jeden Interessierten aufmerksam gemacht. Drittens wird eine Medienkonferenz die Vernehmlassung eröffnen. Und als vierte Massnahme betreibt der Verfassungsrat seit Anbeginn erheblichen Aufwand zur Pflege seiner Homepage, die ebenfalls jeden Interessierten zum Mitmachen am Vernehmlassungsverfahren einlädt.

Nun aber hat die Linke der Geschäftsleistung eine sehr ausführliche Liste weiterer, formell zur Vernehmlassung einzuladender Organisationen präsentiert. Es finden sich darauf Institutionen (etwa die Rote Fabrik,selbstverständlich jede Gewerkschaft, auch umweltpolitische Kampforganisationen usw.), welche ­ zusammen mit der Ablehnung der geforderten Schlussabstimmung ­ die politische Absicht hinter dem Vorgehen deutlich werden lassen. Die Vernehmlassung wird nicht als Befragung Interessierter verstanden, sondern als Mobilisierung von Druck zugunsten von Vorhaben, die sich im Verfassungsrat als nicht mehrheitsfähig erwiesen haben. Dies wird das ganze Verfahren entscheidend abwerten ­ und der Verfassungsberatung in der Öffentlichkeit insgesamt weiter schaden.

Wir bedauern, dass nur eine Minderheit in der Geschäftsleitung erkennt, welcher Diskreditierung sich der Verfassungsrat aussetzen wird, wenn er das ungewöhnliche, weil erst nach der ersten parlamentarischen Beratung einsetzende Vernehmlassungsverfahren für eine einseitige Kampagne missbrauchen lässt. Das ganze Verfahren zur Schaffung einer neuen Verfassung wird damit an Glaubwürdigkeit einbüssen.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch