Holocaust-Beschuldigungen: Schweiz bleibt passiv

Der Bundesrat und das Völkerrecht
Interpellation vom 10. Juni 1998

Die passive Hinnahme immer neuer Beschuldigungen an die Adresse der Schweiz aufgrund ihrer im Zweiten Weltkrieg verfolgten Politik veranlasste Nationalrat Ulrich Schlüer am 10. Juni 1998 zu folgender Interpellation:

Dem Einsatz für die möglichst umfassende Respektierung sowie für die Weiterentwicklung des Völkerrechts galt seit jeher besondere Priorität in der Ausgestaltung schweizerischer Aussenpolitik. Er-staunlicherweise hat die Schweiz trotz dieser seit Jahrzehnten verfolgten Bemühungen zugunsten des Völkerrechts in ihrer seit 1996 anhaltenden Auseinandersetzung mit den USA im Zusammenhang mit herrenlosen Konten von Holocaust-Opfern auf Schweizer Banken sowie mit dem Goldhandel der Schweizerischen Nationalbank während des Zweiten Weltkriegs Handlungen, die im Widerspruch zu geltenden Völkerrecht stehen, weitgehend teilnahmslos hingenommen, jedenfalls zu keinem Zeitpunkt die Respektierung anerkannter völkerrechtlicher Grundsätze im zwischenstaatlichen Verkehr formell angemahnt.

Daher frage ich den Bundesrat an:

Welchen Stellenwert gedenkt der Bundesrat der Respektierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts im Rahmen seiner zukünftigen Aussenpolitik einzuräumen?

Begründung

Konnte im Verlauf der seit 1996 anhaltenden Auseinandersetzung zwischen der Schweiz und den USA im Zusammenhang mit Holocaust-Konten und Nationalbank-Goldhandel auch kaum je eine länger anhaltende Kohärenz in der vom Bundesrat verfolgten Politik festgestellt werden, so verhielt sich die schweizerische Landesregierung in einer Hinsicht konsequent: Sie hat, selbst angesichts haltlosester Angriffe auf unser Land, zu keinem Zeitpunkt die Respektierung elementarer völkerrechtlicher Regeln im zwischenstaatlichen Verkehr angemahnt. Dies erstaunt um so mehr, als gerade die Schweiz in der Vergangenheit zu den beharrlichsten Verfechtern einer möglichst umfassenden Respektierung einerseits, der Weiterentwicklung des Völkerrechts anderseits gehörte. Hat ihr der jahrzehntelange, konsequente Einsatz zugunsten des Völkerrechts auch weltweit Anerkennung eingetragen, so verzichtete die schweizerische Landesregierung vollständig auf die Geltendmachung völkerrechtlicher Grundsätze als sie - erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg - selber aussenpolitisch in ernsthafte Schwierigkeiten geriet. Dies obwohl die Schweiz ihren konsequenten Einsatz für das Völkkerrecht - zu Recht - regelmässig mit dem ureigenen Interesse eines jeden auf seine Unabhängigkeit bedachten Kleinstaats begründet hatte, weil ein Kleinstaat längerfristig nur Überlebenschancen in Selbständigkeit und Freiheit hat, wenn dem Recht auf internationaler Ebene Schritt für Schritt der Vorrang vor der Entfaltung nackter Machtpolitik gesichert werden kann.

Im Zusammenhang mit der seit 1996 anhaltenden Krise in den schweizerisch-amerikanischen Beziehungen als Folge der auf Schweizer Banken lagernden herrenlosen Konten von Holocaust-Opfern und der Goldgeschäfte der Nationalbank während des Zweiten Weltkriegs wurden - ohne dass die Schweiz darauf reagierte - mehrfach anerkannte, gültige Grundsätze des Völkerrechts zulasten unseres Landes verletzt.

Erstens der Grundsatz, wonach Staaten bezüglich beiderseitig interessierender Fragen oder bei Auftreten von zwischenstaatlichen Meinungsverschiedenheiten prinzipiell nur mit Staaten, Regierungen prinzipiell nur mit Regierungen verkehren und verhandeln. Unter schwer nach-vollziehbarer Missachtung dieser elementaren völkerrechtlichen Regeln hat zum Beispiel der schweizerische Aussenminister dem Präsidenten einer privaten Organisation an deren Hauptsitz in New York im Rahmen eines "Beschwichtigungsbesuchs" seine Aufwartung gemacht, was den Besuchten nur zu weiteren, teilweise geradezu skrupellosen politischen Manövern gegen unser Land motivierte. Unter Nichtbeachtung der gleichen völkerrechtlichen Regel liess es der Bundesrat überdies zu, dass in der Person von Unterstaatssekretär Stuart Eizenstat ein hochrangiger Vertreter einer fremden Macht über den Kopf der schweizerischen Regierung hinweg auf Schweizerboden direkte, unsere Landesinteressen ausgeprägt tangierende Verhandlungen mit Schweizer Konzernen führte, die teilweise geradezu erpresserischen Charakter annahmen.

Ebenso wenig getraute sich der schweizerische Bundesrat im Verlauf der erwähnten Auseinandersetzungen, je den Grundsatz der völkerrechtlichen Reziprozität in Erinnerung zu rufen. Eine Beachtung dieses Grundsatzes, wonach kein Staat von einem andern Staat etwas verlangen darf, das er nicht selber zu gewährleisten bereit ist, hätte zwingend zur schweizerischen Forderung führen müssen, dass das Verlangen nach Offenlegung schweizerischer Holocaust-Konten auch die Offenlegung aller herrenlos gebliebenen Konten von Holocaust-Opfern in den USA erfordert hätte.

Auch dem elementaren völkerrechtlichen Grundsatz "pacta sunt servanda" (rechtsgültig ausgehandelte Verträge sind zu respektieren) gegenüber verhielt sich die schweizerische Regierung merkwürdig gleichgültig. Würde sie auf Einhaltung dieses völkerrechtlichen Grundsatzes pochen, hätte sie längst in aller Form das Ansinnen der amerikanischen Regierung zurückweisen müssen, einen hohen Beamten des Aussenmimisteriums, also einen offiziellen Vertreter des Staates angeblich als "Vermittler" zu privaten Organisationen in den USA einzusetzen, die unter klarer Missachtung der Ergebnisse des Washingtoner Abkommens Druck auf die Schweiz, auf schweizerische Institutionen und schweizerische Konzerne ausüben, um Milliardenzahlungen zu erwirken für Umstände, die im Rahmen des Washingtoner Abkommens längst rechtsgültig per Saldo aller Ansprüche bereinigt worden sind.

Viertens lässt die Schweiz gegenüber Drittstaaten den Eindruck aufkommen, dass sie nicht länger am Grundsatz der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller souveränen Staaten festzuhalten gedenkt. Dieser Eindruck resultiert aus der Tatsache, dass sich die schweizerische Regierung mehrfach vor Parlamentskommissionen fremder Staaten zu Hearings zitieren liess: Vorgänge, die elementarem Völkerrecht ebenso diametral widersprechen wie die Entgegennahme des Eizenstat-Berichts, den die Schweiz angesichts seiner Kommentare zur Politik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg als ungebührliche Einmischung nie hätte entgegennehmen dürfen. So verhält sich ein Staat, der sich selbst als Vasall der ihn zitierenden Grossmacht, nicht aber als souveräner, freier Staat, somit als eigenständiges völkerrechtliches Subjekt versteht.

Sowohl gegenüber der schweizerischen Bevölkerung als auch gegenüber Drittstaaten erweckt die schweizerische Regierung durch ihr völkerrechtliche Normen notorisch ausser Acht lassendes Verhalten den Vereinigten Staaten gegenüber den Eindruck, dass ihr höchstens noch begrenzt an der durch das Völkerrecht gesicherten Eigenstaatlichkeit der Schweiz gelegen ist. Um so vordringlicher ist es, dass die schweizerische Regierung sowohl gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch gegenüber der internationalen Welt klar zu erkennen gibt, wie sie in Zukunft mit dem Völkerrecht umzugehen gedenkt.

Antwort des Bundesrates vom 9. September 1998:

Zur Bedeutung des Völkerrechts für die schweizerische Aussenpolitik im allgemeinen

Wie der Interpellant zutreffend festhält, spielt das Völkerrecht bei der Ausgestaltung der schweizerischen Aussenpolitik seit jeher eine vorrangige Rolle. Die Völkerrechtsordnung bildet zunächst den Rahmen für die Verfolgung unserer Interessenpolitik. Darüber hinaus gehört sie aber auch zu den eigentlichen Zielen der Aussenpolitik: namentlich die Wahrung von Sicherheit und Frieden sowie die Förderung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat bedürfen zwingend der Respektierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts. Dieser grundsätzliche Stellenwert des Völkerrechts wird im Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren vom 29. November 1993 (BBl 1994 I 153 {Ziff. 411f.}) und im Bericht 90 des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Sicherheitspolitik der Schweiz (BBl 1990 III 847 {875}) eingehend gewürdigt.

Aus der in langer historischer Erfahrung gewachsenen Einsicht, dass das Recht der beste Schutz kleinerer Staaten darstellt, unterstützt die Schweiz internationale Initiativen zur Stärkung des Völkerrechts. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Streitbeilegung. Die Schweiz setzt sich im bilateralen und multilateralen Rahmen dafür ein, dass gerichtliche oder ähnliche Methoden der Streitschlichtung (Schiedsgericht, Vergleichsverfahren, u. ä.) vorgesehen werden. Als Beispiel aus neuerer Zeit erwähnenswert sind namentlich: das Stockholmer Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE vom 15. Dezember 1992 (SR 0.193.235), das wesentlich auf Vorschläge und Initiativen schweizerischer Juristen zurückgeht, sowie die Vereinbarung über Regeln und Verfahren für die Streitbeilegung im Rahmen des Abkommens ausschliesslich durch Kontakte zwischen Regierungsvertretern bereinigt werden könne. Der Bundesrat und auch die Bundesversammlung haben durch ihre bekannten Massnahmen zugunsten von Wahrheit, Gerechtigkeit und Solidarität unterstrichen, dass die Aufarbeitung der Problematik ein vielschichtiger Prozess ist. Die grosse politische, moralische, wirtschaftliche und rechtliche Dimension des Themas zeigt sich gerade dadurch, dass im In- und Ausland nicht nur Behörden, sondern eine Vielzahl von Akteuren und Meinungsträgern daran interessiert sind - womit allerdings noch nichts über die Legitimität ihrer Forderungen und Handlungen im einzelnen gesagt ist. Für die Interessen der Schweiz und ihrer Wirtschaft aber wäre wenig gewonnen, wenn der Bundesrat sich auf Kontakte zu ausländischen Regierungsstellen beschränken würde. Der Bundesrat nimmt für sich und seine Vertreter vielmehr in Anspruch, dass er die schweizerischen Interessen im Ausland umfassend wahrnehmen kann. Er benützt dazu sämtliche zur Verfügung stehenden völkerrechtskonformen Möglichkeiten. Dazu gehören auch, aber nicht nur, direkte Interventionen bei der US-amerikanischen Regierung, wie z. B. das Schreiben von Bundespräsident Cotti an Präsident Clinton vom 22. Juli 1998. Das Auftritte vor den amerikanischen Medien zur Verteidigung der schweizerischen Interessen ebenfalls unerlässlich sind, versteht sich im Grunde von selbst.

Umgekehrt hatte und hat die Schweiz nichts dagegen einzuwenden, wenn Vertreter der amerikanischen Regierung, im Einverständnis mit den betroffenen schweizerischen Unternehmen, Vermittlungsdienste anbieten. Stünden solche Bemühungen im Widerspruch zum Völkerrecht und verletzten sie die schweizerische Souveränität, so würde der Bundesrat sie nicht tolerieren. Dass der Bundesrat schliesslich zu den beiden Eizenstat-Berichten zur Rolle der Schweiz und der übrigen Neutralen Stellung genommen und sie kommentiert hat, ist seine souveräne, aussenpolitisch begründete Entscheidung.

Die Rolle des Völkerrechts in Zukunft

Der Bundesrat hat die feste Absicht, dem Völkerrecht in der schweizerischen Aussenpolitik wie bis anhin einen hohen Stellenwert einzuräumen. Er wird sich namentlich für die Beachtung grundlegender völkerrechtlicher Normen und für die effektive Nutzung der völkerrechtlichen Instrumente zur friedlichen Streitbeilegung einsetzen. Im Kontext der Thematik "Schweiz - Zweiter Weltkrieg" insbesondere wird er seine völkerrechtlich abgestützte Haltung zur Wahrung der schweizerischen Interessen und der Souveränität des Landes konsequent weiterverfolgen. Der Bundesrat ist allerdings nicht bereit, bei der notwendigen Verteidigung schweizerischer Interessen im Ausland lediglich auf die begrenzten Mittel der zwischenstaatlichen Diplomatie abzustellen. Die derzeitigen Auseinandersetzungen sind für das Image der Schweiz im Ausland von so grosser Bedeutung, dass sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln beeinflusst werden müssen.

Diskussion vom 20. März 2000
In der am 20. März 2000 stattfindenden Diskussion über die Interpellation stellt Nationalrat Ulrich Schlüer die folgenden Überlegungen an:

Wir sind uns wohl einig, Herr Bundesrat Deiss, dass heute die Gefahr einer Verwilderung des Völkerrechts besteht, dass mit dem Völkerrecht teilweise in einer Art umgegangen wird, die eben gerade nicht mehr völkerrechtskonform ist. Es ist doch für den Kleinstaat nicht nur wichtig, in Resolutionen und in Grundsatzerklärungen für das Völkerrecht einzutreten, gerade der Kleinstaat muss besonders dann aktiv werden, wenn ihm gegenüber Völkerrecht verletzt wird. Dazu habe ich vier konkrete Fragen gestellt, die ich gerne beantwortet haben möchte: Weshalb folgt der Bundesrat nicht dem Grundsatz, dass Staaten nur mit Staaten und Regierungen nur mit Regierungen verhandeln? Konkret: Wie beurteilt der Bundesrat heute das Zitiertwerden und den Besuch unseres damaligen Aussenministers beim Jüdischen Weltkongress? Also einer Regierungsvertretung bei einer Nichtregierungsorganisation?

Wie stellt sich der Bundesrat dazu, dass die Schweiz zu Hearings einer Parlamentskommission in die USA zitiert wurde? Ich erinnere daran, dass unsere Aussenpolitische Kommission kürzlich auch die Idee hatte, Russland zu einem Hearing einzuladen, um die Tschetschenien-Frage zu diskutieren. Wir erhielten von der EDA-Vertretung die Auskunft, dass es nicht möglich sei, dass ein Parlament einen anderen Staat vorlädt. Die Schweiz hat sich aber von den USA vorladen lassen! Weshalb dieses ungleiche, meines Erachtens nicht auf das Völkerrecht pochende Verhalten?

In Bezug auf die völkerrechtliche Reziprozität, wonach kein Staat von einem andern Staat etwas verlangen darf, das er nicht selber auch bereit ist zu tun: Weshalb hat die Schweiz konkret nie von den USA gefordert, dass die in den USA lagernden, nicht veröffentlichten Konti von Holocaust.-Opfern durch die USA endlich zu veröffentlichen wären? Das wäre angewandte Reziprozität gewesen.

Ich lese in der Interpellations-Antwort, dass die Schweiz den USA gegenüber bekannt gegeben habe, dass sie die Anwendung von Sammelklagen als völkerrechtswidrig betrachte. Gut, dass das festgestellt wurde. Weshalb liess man es dann aber zu, dass Drohungen mit Sammelklagen als politisches Instrument genutzt wurden? Wes- halb liess man die Banken, die das Opfer dieser Sammelklagedrohungen wurden, allein, als diese Drohungen abzuwehren waren? Der Bundesrat hat damals einfach die Meinung vertreten, die Drohungen beträfen nicht die Regierung. Die Folgen sind bekannt.

Das sind die konkreten Fragen, die nicht beantwortet sind. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese noch beantworten würden.

Ungenügende bundesrätliche Diskussions-Antwort
Deiss Joseph, conseiller fédéral:

Dans sa réponse du 9 septembre 1998, le Conseil fédéral souligne l'importance que revêt depuis toujours le droit international public dans la politique étrangère suisse, en se référant entre autres au rapport sur la politique extérieure de la Suisse dans les années 90. Il démontre, avec des exemples tels que la Convention de Stockholm de 1992 relative à la conciliation et à l'arbitrage au sein de la CSCE, que la Suisse soutient les initiatives internationales visant à renforcer le droit international public, en particulier en matière de règlement des différends. On pourrait aujourd'hui ajouter notamment le rôle important qu'a joué la Suisse lors de la négociation en vue de la création de la Cour pénale internationale.

En ce qui concerne la problématique Suisse/Seconde Guerre mondiale, le Conseil fédéral mentionne qu'il a toujours défendu, de manière ferme et continue, la validité de l'Accord de Washington de 1946. Cet accord ne paraît aujourd'hui plus contesté. A l'aide de divers exemples, il relève qu'il s'est appuyé sur le droit international public et qu'il a toujours tenté de le faire respecter. Il s'est notamment réservé la possibilité d'engager une procédure de règlement des différends dans le cadre de l'OMC et il a envoyé une "lettre to the judge" au Tribunal de New York, et M. Cotti, président de la Confédération, a adressé une lettre au président Clinton en 1998.

En outre, le Conseil fédéral souligne qu'il a toujours la ferme volonté de continuer à consacrer une place importante au droit international public dans la politique étrangère suisse. Il poursuivra la promotion de son respect et continuera, dans le contexte spécifique de la Suisse et la Seconde Guerre mondiale, à s'appuyer sur le droit international public pour protéger les intérêts et la souveraineté du pays. Pour ce faire, il épuisera les possibilités que lui offre la diplomatie traditionnelle, mais il utilisera aussi tous les moyens à sa disposition, comme les contacts avec les médias. De ce point de vue, la réponse du Conseil fédéral donnée en 1998 garde toujours sa pertinence.

Der Interpellant erklärt sich von der Antwort nicht befriedigt.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch