Konkursrecht für Staaten

Interpellation Schlüer vom 3. Oktober 2002

Nachdem verschiedene milliardenschwere «Hilfspakete» des Internationalen Währungsfonds (IMF) zugunsten von mit Zahlungsunfähigkeit konfrontierten Staaten in verschiedenen Regionen der Welt offenbar kaum je eine dauerhafte Verbesserung der jeweiligen Krisensituation herbeizuführen vermochten, ist der IMF derzeit daran, ein «Konkursrecht für Staaten» zu schaffen. Weil der IMF dabei nicht als «unabhängiger Konkursrichter» sondern als (massgeblich betroffener) Gläubiger auftritt, ist nicht die Insolvenzerklärung eines zahlungsunfähig gewordenen Staates (was letzten Endes dessen Bevormundung im Finanzbereich auslösen müsste) das Ziel eines solchen Konkurses. Vielmehr will der IMF im Rahmen dieses «Konkursrechtes für Staaten» Automatismen schaffen, mit welchen er ordnungsgemäss ausgehandelte Konditionen in laufenden Kreditverträgen sowohl von Staaten als auch von kommerziell tätigen Banken mit vor der Zahlungsunfähigkeit stehenden Staaten im Sinne einer Erstreckung von Verpflichtungen einseitig verändern kann. Dies offensichtlich mit dem Ziel, Umschuldungsabkommen mit in finanzielle Nöte geratenen Staaten rascher und autoritärer als in der Vergangenheit zum Abschluss bringen zu können.

Dieses geplante IMF-«Konkursrecht für Staaten» hat damit gewichtigen Einfluss auf laufende staatliche und private Kreditvereinbarungen mit Drittstaaten. Zweifellos ist die Bonität solch staatlicher und privater Kredite damit neu zu bewerten.

Dazu ersuche ich den Bundesrat um Beantwortung folgender Fragen:

1. Welches ist die Gesamtsumme der von der Schweiz an andere Staaten gewährten Kredite, die gegebenenfalls von «konkursrechtlichen Massnahmen» im Sinne des IMF betroffen werden könnten?

2. Gegenüber welchen Ländern bestehen solche Kreditvereinbarungen?

3. Wie beurteilt der Bundesrat die Bonität dieser Kredite in jedem einzelnen Fall?

4. Ist der Bundesrat in der Lage, die Höhe der von kommerziellen Schweizer Banken gewährten Kredite an Staaten zu nennen, die allenfalls von «konkursrechtlichen» IMF-Massnahmen betroffen werden könnten?

5. Wie beurteilt der Bundesrat die Bonität dieser privatwirtschaftlich gewährten Kredite?

6. Bewirkt die Planung des erwähnten «Konkursrechts für Staaten» durch den IMF eine Änderung der schweizerischen Haltung dem IMF gegenüber?

Am 9. Dezember 2002 beantwortete der Bundesrat die Interpellation wie folgt:

Der IWF sorgt für die Stabilität des internationalen Finanzsystems und unterstützt weltweit die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Finanz- und Wirtschaftskrisen sollen möglichst verhindert werden, denn sie können Volkswirtschaften in wenigen Wochen um Jahre zurückwerfen ­ wie jüngst die Ereignisse in Argentinien zeigten. Finanz- und Wirtschaftskrisen werden sich
wohl leider nie restlos vermeiden lassen. Für alle Beteiligten ist es in solchen Notsituationen wichtig, auf ein geeignetes Krisenlösungsverfahren zurückgreifen zu können. Diesbezüglich klafft in der internationalen Finanzarchitektur eine gravierende Lücke, denn für die Lösung einer Staaten-Insolvenz existiert kein adäquates Verfahren. Der IWF-Vorschlag zur Schaffung eines Mechanismus zur Restrukturierung öffentlicher Schulden, der sog. SDRM (Solvereign Debt Restructuring Mechanism), soll dazu beitragen, diesen Mangel zu beheben.

Das internationale Finanzsystem hat sich während der letzten rund zwei Jahrzehnte massgeblich verändert. Etliche Schwellenländer konnten einen vorher ungeahnten, nachhaltigen Wohlstand erreichen, nicht zuletzt durch eine günstige Finanzierung an den internationalen Kapitalmärkten. Einige dieser aufstrebenden Märkte mussten jedoch auch die Erfahrung neuartiger Finanz- und Wirtschaftskrisen machen, wobei in erschreckendem Masse Wohlstandsgewinne zunichte gemacht wurden. Um die Auswirkungen der Krisen zu lindern, hat der IWF seinem Mandat entsprechend eingegriffen. Die Erfahrungen dieser Krisen lösten einen Reformprozess der sog. internationalen Finanzarchitektur aus.

Der SDRM-Vorschlag ist Teil dieser Reformen. Er zielt auf ein ganz bestimmtes Problem ab: Ende der Achtzigerjahre setzte eine Globalisierung des Marktes für Staatsschulden ein. Gerade den aufstrebenden Märkten eröffnete sich die Möglichkeit, Staatsanleihen an den internationalen Kapitalmärkten aufzulegen. Rasch wuchs eine neuartige, weltweite Gläubigergemeinschaft heran, vom Einzelanleger über Pensionskassen bis zu Spezialisten für den Aufkauf notleidender Schuldtitel. Durch die Möglichkeit, Staatsanleihen international aufzulegen, konnten die Risiken bei einer sehr breiten, privaten Gläubigerbasis gestreut werden. Den privaten Anlegern eröffneten sich gleichsam neue Risikodiversifizierungspotentiale, und sie entwickelten entsprechend vielfältige innovative Anlageinstrumente.

Im Insolvenzfall wird eine derartige Gläubigervielfalt zum Koordinationsproblem: Gläubiger sind weltweit verstreut und halten diverseste, in unterschiedlichen Ländern aufgelegte Schuldtitel. Bis in die 1980er Jahre hatten sich Schwellenländer beim ausländischen Privatsektor fast ausschliesslich bei Grossbankenkonsortien verschulden können. Im Fall der Zahlungsunfähigkeit war es entsprechend einfacher, mit höchstens einem Dutzend Gläubiger eine Lösung an einem runden Tisch zu finden. Hierfür
entstand ein informelles Ad-hoc-Gremium der Grossbanken, der sog. Londoner Klub. Für eine grosse Gläubiger- und Schuldenvielfalt, wie sie heute auftreten kann, ist er aber ungeeignet.

Hauptziel des SDRM ist es, dieses Problem der Koordination der weltweit zerstreuten privaten Gläubiger bei der Staaten-Insolvenz zu überwinden. Dazu gehört auch, dass die Vereitelung von Umschuldungsvereinbarungen durch einzelne unkooperative Gläubiger verhindert wird. Diesbezüglich gab es in jüngster Zeit vereinzelte Fälle, bei denen so genannte «Geierfonds» notleidende Kredite aufkauften und sich die Rückvergütung der ursprünglichen Schuld vor Gericht erwirkten. Derartige Prozesse bevorzugen strikte den Klagenden gegenüber allen anderen Gläubigern. Es ist zu befürchten, dass Erfolge bei derartigen Klagen eine Zunahme solchen obstruktiven Verhaltens mit sich bringen wird. Der Mechanismus zur Restrukturierung öffentlicher Schulden würde derartige Gerichtsverfahren verunmöglichen.

Der SDRM befindet sich heute noch in einem Entwurfsstadium. In der nächsten Zeit werden die noch zahlreichen offenen Fragen im IWF-Exekutivrat und in anderen Gremien diskutiert und so weit als möglich einer Lösung zugeführt.Einige Grundelemente des SDRM stehen jedoch heute schon fest:

1. Voraussetzung für die Aktivierung des SDRM ist, dass ein Land die Bedienung seiner Schuld einstellen muss. Der SDRM wird durch die Erklärung eines (auch vorübergehenden) Moratoriums ausgelöst. Dieses schützt Gläubiger und das Schuldnerland. Gläubiger müssen nicht fürchten, dass sie durch Handlungen anderer Gläubiger benachteiligt werden. Dem Schuldnerland schafft es Zeit zur Vorbereitung der Umstrukturierungsverhandlungen und des Programms für den wirtschaftlichen Neuanfang. Nach rund 60 Tagen befindet eine qualifizierte Gläubigermehrheit über die Fortführung des Moratoriums.

2. Ein von der internationalen Staatengemeinschaft einberufenes unabhängiges Expertengremium begleitet die Umstrukturierungsverhandlungen als Schlichterin in Konflikten zwischen verschiedenen Gläubigergruppen und zwischen Gläubigern und Schuldnerland.

3. Ein Schutz der Gläubigerinteressen wird durch den SDRM sichergestellt. Keine Gläubiger dürfen bevorzugt bedient werden, und es wird darüber gewacht, dass die Behörden des Schuldnerlandes ein nachhaltiges und zukunftsgerichtetes Krisenmanagement betreiben ­ also keine Vermögenswerte abgezogen oder zerstört werden können.

4. Im Rahmen des SDRM können neue Mittel vom Privatsektor mobilisiert werden, indem diese Neugelder einen bevorzugten Gläubigerstatus erhalten.

5. Eine qualifizierte Gläubigermehrheit befindet am Ende der Verhandlungen über die Umstrukturierung der Schuld.

Obwohl der SDRM durch eine Änderung der Statuten des IWF geschaffen werden soll, erhält der IWF dadurch keine neuen Kompetenzen im Fall einer Staaten-Insolvenz. Seine Expertise bei der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage und der Führung der Wirtschaftspolitik wird aber voraussichtlich etwas anders wahrgenommen, aufgrund ihrer Wichtigkeit für die Analyse des
längerfristigen Schuldenprofils. Dieses bestimmt letztlich das Ausmass der notwendigen Umschulung. Der IWF tritt im SDRM nicht als Gläubigerpartei auf, seine Kreditvergabe muss jedoch klar vorhersehbar und beschränkt sein, da sie sich in der Gesamtschuld niederschlägt.

Zu den Fragen des Interpellanten sind folgende Antworten anzubringen:

Fragen 1 bis 3: Für die Schulden zwischen Staaten existiert seit längerem ein Gremium, der Pariser Klub, der Umschuldungen verhandelt. Mit dem vom IWF vorgeschlagenen SDRM sollen die bestehenden Ziele, Regeln und Funktionsweisen des Pariser Klubs nicht beeinträchtigt werden. Im Pariser Klub werden auch die Guthaben des Bundes gegenüber jenen Staaten
umstrukturiert, die in Zahlungsschwierigkeiten geraten sind. Ziel des Pariser Klubs ist es, eine für alle betroffenen Länder akzeptable und vertretbare Lösung der Zahlungsschwierigkeiten zu finden. Die finanziellen Interessen der Gläubigerländer, darunter auch die der Schweiz, werden somit ebenfalls berücksichtigt. Der mit Abstand grösste Teil der öffentlichen
Guthaben der Schweiz gegenüber anderen Ländern bezieht sich auf die Umschuldungsguthaben im Rahmen der Exportrisikogarantie (ERG) und umfassen Ende 2001 2,6 Milliarden Franken. Diese Umschuldungsvereinbarungen werden grösstenteils vollumfänglich bedient.

Fragen 4 und 5: Der SDRM zielt darauf ab, dass die Schulden eines Staates bei seinen privaten Gläubigern verhandelt werden können. Daher wären im Falle der Insolvenz eines fremden Staates schweizerische Haushalte und Unternehmen betroffen, die Kredite an diesen Staat gewährt hatten, oder dessen Anleihen halten. Über das Ausmass dieser Investitionen in andere
Staaten werden keine separaten Statistiken geführt. Aktiviert ein Land den
SDRM, sind alle privaten Gläubiger an das Verfahren gebunden. Solange das Schuldenmoratorium läuft, können Gläubiger ihr Recht auf Zahlung nicht einklagen. Das Schuldenmoratorium können sie per Mehrheitsentscheid verlängern. In Anbetracht der Tatsache, dass bei einer Insolvenz nicht genügend Mittel vorhanden sind, um alle Gläubigeransprüche zu decken, wird diese Rechtsbeschränkung in der Not zur Sicherheit. Sie vermeidet, dass die Ansprüche einiger weniger Gläubiger zu 100 Prozent erfüllt werden, während sich andere mit weniger zufrieden geben müssen.

Frage 6: Die Schweiz begrüsst das Vorhaben des IWF, einen SDRM zu schaffen. In Anbetracht der globalisierten Schulden vieler Länder ist es wichtig, dass es für den Notfall ein ordentliches Verfahren zur Verhandlung einer Schuldenrestrukturierung gibt. Auf keinen Fall soll ein Verfahren geschaffen werden, welches zu einer strategischen Insolvenz einladen würde, also der
Restrukturierung von lästigen Schulden aus Bequemlichkeit. Die Insolvenz bleibt unter dem SDRM eine äusserst schmerzhafte Option, die Länder auf jeden Fall vermeiden werden wollen.

Idealerweise würden vom SDRM präventive Wirkungen ausgehen: Sein Eintretenim Ernstfall wird antizipiert und vermittelt genügend Anreize, das Schuldenproblem bereits im Vorfeld zu lösen, oder, noch besser, es gar nicht erst entstehen zu lassen.

Parallel zum SDRM begrüsst und verfolgt die Schweiz Initiativen zur Einführung von Kollektivverhandlungsklauseln in Anleihensverträgen. Diese dezentrale Möglichkeit der Neuverhandlung von Zahlungsbedingungen ist ein wichtiges komplementäres Element für den SDRM. Die Ausgestaltung der entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen sollten aber auf jeden Fall die Angelegenheit der Gläubiger und Schuldner sein.

Der Interpellant erklärt sich als teilweise befriedigt und verlangt Diskussion. Diese findet in einem späteren Zeitpunkt statt.

Weil länger als zwei Jahre hängig wurde die Interpellation vom Bundesrat ohne Diskussion per 8. Oktober 2004 als erledigt abgeschrieben.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch