Wo liegen die grössten Mängel?

Armee XXI in der Sackgasse
Kommentar für die Rubrik "Akzent" in der "Schweizerzeit" vom 13. November 2009

Die Jahre der Mängelvertuschung, der Fehlleistungs-Beschönigungen, der Realitäts-Vernebelung sind im VBS glücklicherweise vorbei. Die Veröffentlichung der Mängelliste hat ungeschönte Transparenz zur tatsächlichen Lage der Schweizer Armee geschaffen. Jetzt aber muss die Mängelbehebung eingeleitet werden. Dazu sind die folgenschwersten Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der letzten Jahre in Erinnerung zu rufen.

1. Armee ohne Auftrag

Nach 1989 vertraten Armeeführung, VBS-Spitze und Bundesrat plötzlich die «Lehre», wonach, eine moderne Armee keines eigentlichen Auftrags mehr bedürfe. Vielmehr seien – dem Willen zur «aussenpolitischen Öffnung» folgend – laufend Möglichkeiten für Armee-Einsätze unterschiedlichster Art an unterschiedlichsten, möglichst im Ausland gelegenen Orten zu suchen. Eine Art «Schnäppchenjagd» für militärische Einsätze verwandelte sicherheitspolitische Lehre in sicherheitspolitische Leere.

Dazu sei der in der Bundesverfassung sehr allgemein, ziemlich unscharf formulierte Aufgabenkatalog genügend. Konkrete Aufträge mit überprüfbarer Zielerreichung blieben aus. Ziellosigkeit begann zu dominieren. Strategisches Training zur Führung in ausserordentlichen Lagen für die politische und militärische Spitze unterblieb. Die Zielsetzung, dem immerwährend neutralen, selbstbestimmten, den Bürger als Souverän anerkennenden, damit ein Maximum an persönlicher Freiheit sichernden Kleinstaat Schweiz die Unabhängigkeit und die Freiheit zu bewahren, trat in den Hintergrund. Die Absicht war vielmehr, die «Neutralität sanft einschlafen zu lassen» – so hat es der Direktor für Sicherheitspolitik in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre formuliert.

Die Flucht der Armeespitze vor konkreten Aufträgen führte die Armee in die Sackgasse. Die Frage steht im Raum: Ist blosse Unfähigkeit oder bewusste Distanzierung vom Verteidigungsauftrag der Armee die Ursache dieser Entwicklung, die der Armee und ihrer Verankerung in der Bevölkerung schwer geschadet hat.

2. Armee ohne Führung

Eine Armee, welcher kein konkreter Auftrag erteilt wird, kann weder auftrags- noch zielorientiert geführt werden. Dies hatte zur Folge, dass ausgewiesene Führungserfahrung für die Beförderung in hohe Kommandofunktionen immer weniger verlangt wurde. Der Traum zentralisierter, computergesteuerter Armee- Führung durch Stabsfunktionäre ab Bern rückte den Wert von Führungserfahrung in den Hintergrund. Stabskarrieren nahmen Überhand. Auftragsformulierung, Auftragsentgegennahme, Auftragsumsetzung, Auftragserfüllung verschwanden aus dem Denken. Stattdessen wurden Milliardeninvestitionen für Führungselektronik bewilligt, von der man sich zentralisierte Führung erhoffte, die sich heute indessen als untauglich erweist. Mit der elektronischen Führungsunterstützung hat sich die Armeespitze unter Milliardenaufwand eine für den Ernstfall untaugliche Liebhaberei geleistet, die in erster Linie die völlig ziellose Führung im wichtichsten Sicherheitsorgan der Schweiz während der Ära Schmid/Keckeis dokumentiert.

3. Armee ohne Bestandesübersicht

Die Armee XXI wurde konzipiert für 120'000 Aktive und 80'000 Reservisten. Sie basiert auf der Vorgabe, dass bezüglich WK-Absolvierung der (mit Armee 95 aufgegebene) Jahresrhythmus wieder eingeführt würde.

Schon wenige Monate nach Start von Armee XXI zeigte sich: Niemand in der Armee entwickelte je den Willen, diesen Jahresrhythmus ernsthaft wieder durchzusetzen. Tatenlos stand die Armee einer sich laufend vergrössernden Flut von Dispensationsgesuchen gegenüber. Längst spekulieren Tausende Wehrmänner darauf, dass ihnen, wenn sie nur immer wieder Verschiebungsgesuche stellen, schliesslich ein Teil der WK-Pflicht zwangsläufig erlassen werden müsse.

Für die nur noch Teilbeschaffungen vornehmende Armee zeigt sich überdies: Für 190'000 anstelle von 120'000 Aktiven reicht das Material nicht. Das als Folge des Überbestandes im Vergleich zur Planung viel zu stark genutzte Material kann nicht wieder rechtzeitig betriebsbereit gemacht werden. Von Jahr zu Jahr aufbauende, unter zielbewusster Führung geleistete Ausbildung wird unmöglich, weil die WK-Einheiten von Jahr zu Jahr anders zusammengewürfelt werden. Die jahrelange Untätigkeit von VBS- und Armeeführung im Blick auf diese milizbedrohende Entwicklung lässt die Vermutung aufkommen, dass die damals Verantwortlichen das Interesse an einer funktionsfähigen Verteidigungsarmee auf Miliz-Basis verloren hatten.

4. Armee ohne funktionierende Logistik

Das für Armee XXI erarbeitete Logistik-Konzept wurde zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise umgesetzt. Der Logistik-Bereich wurde zum finanziellen Steinbruch: Nahezu der gesamte dem VBS abverlangte Personalabbau erfolgte bei der Logistik – deren Organisation man gleichzeitig von Grund auf hatte erneuern wollen, was dann allerdings nur teilweise, und widersprüchlich erfolgt ist, so dass die Logistik heute nicht wirklich funktioniert.

Ob mangelnder Wille oder mangelnde Kompetenz in Armee- und VBS-Führung für das angerichtete Desaster ausschlaggebend waren, darüber gehen die Meinungen auseinander. Untragbar ist beides. Die Armee ist aufgrund der vorhandenen Mängel bei ihrer Logistik faktisch nicht einsatzfähig. Ein Vorwurf, der ein Ausmass an Auftrags-Nichterfüllung zum Ausdruck bringt, das Folgen zeitigen muss. Die Ausrede, man habe sich auf Kooperationsmodelle verlassen, ist dazu gewiss nicht akzeptierbar.

5. «Aufwuchs»-Illusion platzt

Die Reform «Armee XXI» stellte den Aufwuchs in den Mittelpunkt: Nur noch ein Kern der Armee müsse Verteidigungsaufgaben beherrschen. Für die «Friedensarmee» seien nur noch Teilbeschaffungen nötig. Vollausrüstung erfolge bloss im Ernstfall.

Fünf Jahre nach Einführung dieses Systems steckt die Armee tief in der Sackgasse. Schon heute ist klar: Die Lücken, die fünf Jahre Aufwuchs-Ideologie bewirkt haben, sind heute schon so gross, dass niemand mehr mit deren Auffüllung rechnet. Die Aufwuchs-Illusion erweist sich als Selbst- und Öffentlichkeits-Täuschungsmanöver von seltener Grösse. Hinter der Aufwuchs-Rhetorik wurde nichts anderes als die sträfliche Vernachlässigung der Armee-Aufträge getarnt, die man – als Beihilfe zur Tarnung – schon gar nicht mehr formuliert hat.

Eine Armee ist so stark, wie sie ausgerüstet, ausgebildet und bewaffnet worden ist. Virtuelles Können, virtuelle Ausrüstung, virtuelle Bewaffnung ist Selbsttäuschung. Angesichts moderner Konflikte, die gegebenenfalls ohne auch nur eine einzige Stunde Vorwarnzeit Tatsache werden können, ist die Idee, man werde Jahre im voraus zu aufkommenden Konflikten vorgewarnt, durch und durch untauglich. Wer noch immer mit Vorwarnzeiten argumentiert, nimmt den Sicherheitsauftrag für Land und Volk nicht ernst.

Das Unwort «Aufwuchs» hat aus dem militärischen Wortschatz, vor allem aber aus dem militärischen Denken zu verschwinden. Die Aufwuchs-Ideologie untergräbt die Glaubwürdigkeit unserer Armee.

Ulrich Schlüer


(C) 2010 - 2017: Alle Rechte vorbehalten

Diese Seite drucken