Drei Monate sind vorbei

Der aktuelle Freitags-Kommentar der «Schweizerzeit» vom 3. Juni 2011

Wer organisiert die Rückschaffung der Illegalen?

Von Nationalrat Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Seit Monaten strömen Tunesier – unechte Flüchtlinge aus einem Land, in dem ein Befreiungs-Coup alle Fluchtgründe beseitigt hat – nach Italien. Dort erhalten sie Touristenvisa, die ihnen für drei Monate volle Bewegungsfreiheit in ganz Europa sichern.

Italien erreicht mit dieser Visa-Erteilung die rasche Durchschleusung dieser illegalen Einwanderer in alle dem Schengen-Vertrag angeschlossenen Staaten. Damit verletzt Italien das Dublin-Abkommen der Europäischen Union aufs schwerste. Mit diesem auch von Italien unterzeichneten Abkommen verpflichteten sich die EU-Staaten untereinander, dass jenes EU-Land, das von einem Asylsuchenden als erstes betreten wird, für die Registrierung des Neuankömmlings verantwortlich ist. Der Registrierung hat gemäss Dublin-Abkommen die Prüfung des Asylantrags zu folgen. Fehlen Asylgründe, muss der Gesuchsteller als illegaler Einwanderer zwingend in sein Herkunftsland zurückgeschafft werden. So beschloss es die EU. Dazu verpflichtete sich auch Italien – ohne je auch nur im entferntesten daran zu denken, das Unterzeichnete auch vertragskonform umzusetzen.

Nagelprobe
Dass Italien zu keinem Zeitpunkt gewillt war, den Dublin-Vertrag einzuhalten, beweist es mit seiner Massenerteilung von Touristenvisa an Tausende mit voller Absicht nicht registrierter illegaler Einwanderer aus Nordafrika, vorderhand vor allem aus Tunesien – wo der Diktator hinweggefegt worden ist, wo jetzt ein freiheitlicher Staat aufgebaut wird.

Die Schweiz ist Hauptleidtragende der fortgesetzten Verstösse Italiens gegen das Dublin-Abkommen. Rund sechshundert Aufgriffe illegaler Einwanderer gelangen dem Schweizer Grenzwachtkorps innerhalb der letzten dreissig Tage an der Tessiner Grenze zu Italien. Etwa zweihundertfünfzig der Aufgegriffenen wurden umgehend nach Italien rücküberstellt. Alle übrigen seien als Asylsuchende registriert worden, sagt Bundesbern.

Das, was Italien unter vorsätzlichem Vertragsbruch unterlassen hat, übernimmt also die Schweiz – obwohl sie, weil klar nicht «Erstasylland» für die Ankömmlinge, dazu nicht verpflichtet wäre. Berlusconi reibt sich vergnügt die Hände: Sein vorsätzlicher Vertragsbruch bewirkt, dass der Schwarze Peter der Schweiz zufällt.

Frankreich – gegenüber dem vertragsbrüchigen Italien in gleicher Situation wie die Schweiz – handelt anders: Präsident Sarkozy hat kurzerhand den Zugsverkehr zwischen Italien und Frankreich eingestellt. Per Federstrich des Präsidenten wurde der freie Personenverkehr zwischen dem EU-Land Italien und dem EU-Land Frankreich suspendiert. Frankreich ist damit für Tunesier mit von Italien ausgegebenen Touristenvisa geschlossen!

Die von Frankreich eigenständig auf Zeit verfügte, dem Buchstaben des Schengen-Vertrags eigentlich aber widersprechende Wiedereinführung von Grenzkontrollen unterbindet die illegale Einwanderung von Tunesiern nach Frankreich weitestgehend. Diese kommen jetzt eben in die Schweiz, wo Funktionäre und Manager sofort Zeter und Mordio schreien, wenn die – in der Krise schlicht nicht funktionierende – Personenfreizügigkeit irgendwie in Zweifel gezogen wird.

So «funktioniert» Dublin
Die drei Monate, für welche die italienischen Touristenvisa an illegal eingewanderte Nordafrikaner ausgestellt worden sind, laufen demnächst für die grosse Zahl der früh eingereisten Tunesier ab. Fragen an Schweizer und EU-Asylfunktionäre, was nach Ablauf dieser Frist geschehe, werden allen Ernstes dahingehend beantwortet, dass die «illegalen Touristen» am Tag des Ablaufs ihrer Touristenvisa wohl nach Italien zurückkehren müssten, wo Italien sie dann gewiss ordnungsgemäss registrieren werde zwecks Eröffnung ordentlicher Asylverfahren.

Der Tonfall, in dem solch treuherzige Antworten von Asylfunktionären erteilt werden, verrät es: Niemand, wirklich niemand glaubt im Ernst daran, dass diese Illegalen je wieder nach Italien zurückkehren werden. Zumal Italien alles unternimmt, deren Rückkehr zu verhindern. Einmal nach Europa eingedrungen, werden sie nicht mehr aus Europa zu vertreiben sein.
Dublin ist wirkungsloser Papiertiger. Das haben jene, die in der Schweizer Volksabstimmung den Beitritt zu Dublin und zu Schengen ablehnten, längst vorausgesagt – auch wenn sie dafür, selbst aus bundesrätlichem Mund, im Abstimmungskampf zu «Lügnern» gestempelt worden sind. Die schweren Nachteile des voraussehbaren Nicht-Funktionierens des Schengen- und Dublin-Abkommens tragen heute freilich die Schweizerinnen und Schweizer. Der Bundesrat geht achselzuckend darüber hinweg. Lügner sind immer die anderen.

Trostlose Entwicklung
In Wahrheit ist die Lage trostlos: Sowohl an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland als auch an jener zwischen Bulgarien und Griechenland findet nennenswerte Kontrolle der EU-Aussengrenze seit Monaten kaum mehr statt. Es gibt dort Tage, da die von Schleppern in grosser Zahl herangeschafften Illegalen in grossen Paketen ohne jede Kontrolle durchgewinkt werden. Jede Polizeidirektion in ganz Europa weiss: Dort werden insbesondere Verbrecher in grosser Zahl nach Europa eingeschleust – praktisch hindernislos.

An der Südgrenze, also an der Mittelmeergrenze foutiert sich Italien um alles, was je in der EU bezüglich Schengen und Dublin beschlossen worden ist. Hauptleidtragende ist die Schweiz. Brüssel unternimmt nichts.

Bleibt die Ostgrenze, die Grenze zwischen den osteuropäischen Neumitgliedern der EU und den ehemaligen Satelliten der Sowjetunion. Auch da findet systematischer Schutz der Grenze nicht im entferntesten statt.

Zwischen der Ukraine und Polen wurde über die angebliche Schengen-Aussengrenze ein «kleiner Grenzverkehr» eingerichtet. Wer – beidseits der dafür vorgesehenen Grenze – davon profitieren will, benötigt selbstverständlich ein Papier, das ihn als im Grenzraum wohnhaft ausweist. Entsprechende Recherchen liefern allerdings rasch die Gewissheit, dass mit gezieltem Einsatz von etwas Geld entsprechende Papiere leicht von jedermann – soweit hinlänglich zahlungsfähig – ergattert werden können. Den Schleppern hat sich an dieser Grenze lediglich ein zusätzlicher Markt geöffnet.
Weder Schengen noch Dublin sind krisentauglich. Die Personenfreizügigkeit wird zunehmend Spielball von Schleppern, denen fahrlässiges und vorsätzliches Funktionärsversagen laufend neue Tätigkeitsfelder eröffnet. Der Bundesrat stellt sich blind. Wortreiches Verdammen jener, die sich mit solchem Versagen auf Kosten der Bevölkerung nicht abfinden wollen, ist bald alles, was von Berns Migrationspolitik übrig geblieben ist.

Ulrich Schlüer, Nationalrat


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