Völkerrecht in der Agonie

Die Ukraine, Russland und der Westen

Von Ulrich Schlüer

Alle reden sie von Völkerrecht. Alle zerreden das Völkerrecht. Alle missbrauchen das Völkerrecht.

USA

Wollten Russland – oder China – z.B. Mexiko als Basis für eigene machtpolitische Ansprüche nutzen und sich dort entsprechend einnisten: Niemand in der westlichen Welt würde Einspruch erheben, wenn die USA mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dieses «Vorfeld» seinem alleinigen Einflussbereich unterordnen und die «Aggression von aussen» unterbinden wollten.

Am Beispiel Kuba setzte Washington diesen Anspruch durch – nachdem er bereits 1823 im Rahmen der sog. Monroe-Doktrin («Amerika den Amerikanern») für ganz Nord- und Südamerika apodiktisch eingefordert worden war.

Mit Völkerrecht hat dies nichts, mit Machtanspruch umso mehr zu tun.

Russland

Will jemand Russland im Blick auf die Ukraine verweigern, was zumindest die westliche Welt den USA im Blick auf Nord-, Mittel- und Südamerika selbstverständlich zugesteht?

Als die Sowjetunion in den Neunzigerjahren nahezu zerfiel, unterstützte Russland aktiv die deutsche Wiedervereinigung. Daraus dürfe, liess der Kreml verlauten, aber nicht geschlossen werden, dass er seine unmittelbare Einflusszone, z.B. die Ukraine, einfach den USA überlassen würde. Wer die Nato bis an die Grenze Russlands ausdehnen wolle, dürfe nicht glauben, das damals schwache Russland bleibe ewig schwach. Er könnte sich täuschen – wie jetzt, 2014, bewiesen wurde.

Weltpolitik ist Machtpolitik – Völkerrecht hin oder her.

EU

Indem drei Aussenminister offenbar namens der EU – Steinmeier (D), Fabius (F) und Sikorski (P) – zugunsten der Maidan-Demonstranten den Sturz des rechtmässigen, aus korrekter Wahl hervorgegangenen Präsidenten der Ukraine mit beförderten, brachen sie den Damm. Ihr Völkerrecht verletzendes Vorgehen lieferte Putin den Vorwand, die Krim ebenfalls am Völkerrecht vorbei «ins Mutterland Russland» zurückzuholen.

Was aus der unüberlegten Tat der EU-Aussenminister noch wird, ist heute nicht absehbar. Der Bruch von Völkerrecht durch Brüssel dürfte sich indessen rächen.

Ukraine

Die Ukraine befindet sich – innen- wie aussenpolitisch – in äusserst prekärer Lage. Die Osthälfte – mit starker russischer Minderheit und mit den Industriezentren des Landes – orientiert sich ganz nach Russland. Die Westhälfte (westlich des die Hauptstadt zweiteilenden Dnjepr) sucht kompromisslos die Anlehnung an Westeuropa.

Zur Erinnerung: Lemberg (heute Lwiw) war noch bis 1918 in der k. u. k. Monarchie die Hauptstadt Galiziens. In der Südwest-Ukraine trifft man noch heute auf Städte – etwa Czernowitz in der nördlichen Bukowina, Geburtsort des weltberühmten Sängers Joseph Schmidt («Ein Lied geht um die Welt») –, die österreichischer aussehen als Wien.

Wohl in keinem Land Europas sind die politisch Führenden untereinander erbitterter zerstritten als in der Ukraine. Ob das mit der neuen, massgeblich von Oligarchen geprägten Regierung besser wird, ist fraglich. Seit Erlangung der Unabhängigkeit lähmt die unendliche Streiterei in Regierung, Parlament und Verwaltung das Land.

Armut

Die Armut der Ukraine ist nicht naturgegeben. Ganz im Gegenteil: Die Ukraine könnte mit ihren fruchtbaren Schwarzerde-Böden der weltweit grösste Getreide-Exporteur sein. Könnte – wenn die USA mit der EU im Schlepptau der Ukraine den Getreide-Export nicht seit Jahren rigoros verwehren würden. Dies mit Rücksicht auf die US-Produzenten, die den Weltgetreidemarkt beherrschen. Keine US-Regierung will es mit diesen wichtigen Wahlkampf-Unterstützern verderben. Deshalb verfaulen in der Ukraine jährlich tausende von Tonnen Weizen, was die Ukrainer zur Armut regelrecht verdammt. Eine Politik von verheerender Kurzsichtigkeit seitens der grossen westlichen Handelsnationen. Sie ist auch mit Entwicklungsmilliarden – jetzt Hals über Kopf von selbst in ihren Schuldenlöchern ersaufenden EU-Staaten versprochen – nicht rasch korrigierbar. Dies umso weniger, als neuerdings kapitalkräftige Konzerne des internationalen Agro-Business in die Ukraine dringen, um den dort nunmehr während Jahrzehnten der Armut überantworteten einheimischen Bauern das fruchtbare Land abzujagen.

Eine mit geltendem Völkerrecht gewiss nicht zu vereinbarende, von kurzfristigem Macht- und Gewinndenken geprägte Politik.

Chancen

Klügere Politik hätte der Ukraine ermöglicht, den natürlichen Reichtum des Landes in Gestalt seiner überaus fruchtbaren Böden zu nutzen und damit zu Wohlstand zu kommen. Aufgrund solcher Entwicklung hätten Brücken zwischen dem Westen und dem Osten des Landes am ehesten entstehen können. Mittels strikter Politik rein defensiv eingestellter Neutralität – also fern der Nato – wäre selbständige Existenz selbst im Vorfeld Russlands vielleicht möglich geworden.

Als zur Armut verurteilter Spielball der Grossmächte hat das bedauernswerte Land indessen keine Chance auf langfristig gesicherte, selbständige Existenz.

Der Vermittler

Auch Vermittlungsbemühungen in internationalen Konflikten unterstehen gewissen Regeln des Völkerrechts: Der Vermittler hat sich konsequent unparteiisch zu verhalten. Er hat unter Beweis zu stellen, dass er von keiner am Konflikt beteiligten oder am Konflikt interessierten Macht irgendwie abhängig ist. Und dass er von keinem Beteiligten unter Druck gesetzt oder gar erpresst werden kann.

Bern spricht zwar von Vermittlung – überlegt aber gleichzeitig öffentlich, ob es sich gewissen Boykott-Massnahmen von EU und USA – also der einen Konfliktpartei – gegen Russland – also gegen die andere Konfliktpartei – anschliessen soll. Solch «öffentliche Boykott-Überlegungen» sind Gift für echte Vermittlungsbemühungen. Der Unparteiische gerät ins Zwielicht der Parteilichkeit.

Auch die Sistierung laufender Verhandlungen um einen Freihandelsvertrag mit Russland unterminiert die neutrale Position des Vermittlers. Auch dann, wenn, wie seitens des Departements Schneider-Ammann eilends nachgeschoben wurde, die Sistierung bloss eine einzige Verhandlungsrunde, nicht die Verhandlungen insgesamt betreffe. Kopflosigkeit scheint zu regieren.

Bundesrat Burkhalter kann sich nicht entscheiden, ob er wirklich unparteiisch vermitteln will, oder ob er durch Parteinahme zugunsten des EU-Standpunkts «Wiedergutmachungspolitik» gegenüber der EU leisten wird für das ihn selbst schockierende Ja des Schweizer Souveräns zur Initiative gegen die Masseneinwanderung. In seiner Ziellosigkeit scheint er mit Verpflichtungen, die das Völkerrecht dem Vermittler auferlegt, nicht umgehen zu können.

Der echte Vermittler hat völkerrechtlich nicht nur das Recht, vielmehr die Pflicht, sich jeglicher Sanktionen gegen eine der Konfliktparteien zu enthalten. Wer Sanktionen ergreift oder mitträgt, ergreift Partei. Ein Völkerrechts-Grundsatz.

Der Vermittler müsste auch Personal stellen, das seiner Aufgabe gewachsen ist. Und das von den Konfliktparteien ernst genommen wird. Dies trifft auf den Viel- und Dummsprecher Guldimann gewiss nicht zu. Die Russen sind nun einmal Patrioten. Wenn Tausende auf Moskaus Rotem Platz angesichts der «Heimkehr der Krim» ergriffen die Nationalhymne singen, dann hat ein Tim Guldimann, der sich der schweizerischen Neutralität öffentlich glaubt schämen zu müssen, im Kreml nichts verloren. Er hat das Image des Windbeutels – kein Gesprächspartner für Putin, den dieser ernst nehmen könnte.

Wer mit elementaren diplomatischen Erfordernissen nicht zurechtkommt, wer Vermittlung als Show vor Fernsehkameras aufziehen will, der verletzt zwar kein Völkerrecht. Er zeigt lediglich, dass er seiner Aufgabe nicht gewachsen ist.


(C) 2010 - 2017: Alle Rechte vorbehalten

Diese Seite drucken