Nicht einsatztauglich

Die Schweizer Armee angesichts der heutigen Bedrohungslage

Tödliche Terrorattacken haben in den letzten Monaten auch europäische Städte heimgesucht. Der Ruf nach Sicherheitskräften, die den Bedrohungen von heute gewachsen sind, wird stärker.

Die «Schweizerzeit» im Gespräch mit Korpskommandant aD Simon Küchler, Steinen SZ

Die Schweizer Armee, das wichtigste Instrument der Landesregierung zur Gewährleistung der Sicherheit in der Schweiz, ist in den vergangenen Jahren, da eine Mitte-Links-Mehrheit den Bundesrat dominierte, bedrohlich vernachlässigt worden. Was ist zu tun, damit dem offensichtlichen Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Sicherheit in unserem Land baldmöglichst wieder entsprochen werden kann? Darüber hat die «Schweizerzeit» mit Korpskommandant aD Simon Küchler, der in den Neunzigerjahren das Gebirgsarmeekorps 3 befehligt hat, ein ausführliches Gespräch geführt.

Sicherheit durch «Kooperation»?

«Schweizerzeit»: Am Anfang jeder Beurteilung sicherheitspolitischer Erfordernisse steht die präzise Lagebeurteilung. Dass die weltpolitische Entwicklung von schwerwiegenden Unwägbarkeiten geprägt ist, dass Terroranschläge auch europäische Städte treffen, hat früher vorherrschende Sorglosigkeit bezüglich der Sicherheitsorgane und ihrer Aufgaben verdrängt. Wie steht es heute mit der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz?

Simon Küchler: Einst war die autonome Verteidigungsfähigkeit im Rahmen eines umfassenden Konzepts der Gesamtverteidigung das Ziel schweizerischer Sicherheitspolitik. In der Bundesverfassung ist dieser Grundsatz noch immer fest verankert. In der Realität ist der Grundsatz aber aufgegeben worden. Eine eigenständige Strategie autonomer Verteidigungsfähigkeit existiert nicht mehr. Im Schlepptau der Politik orientierte sich auch die Armeeführung zunehmend am Schlagwort «Sicherheit durch Kooperation». Man ist damit einem Trugbild aufgesessen.

Vor der Beantwortung Ihrer Frage ist noch eine Ergänzung anzubringen: Dem Ziel «autonome Verteidigungsfähigkeit» sind auch die kantonalen Sicherheitskräfte, die Polizeikorps, sowie das Grenzwachtkorps zu unterstellen. Die politischen Behörden müssten auch ihre Wirtschaftspolitik auf das Ziel der eigenständigen Verteidigungsfähigkeit ausrichten; dabei wäre die Herrschaft über die Informationsflüsse sicherzustellen. Und zu gewährleisten, dass die Energieversorgung auch in schwerer Krise funktioniert. Dies setzt voraus, dass die dafür unverzichtbaren Versorgungs-Einrichtungen geschützt werden können. All dies – das Denken und Planen im Rahmen einer Gesamtverteidigung – ist mit dem Konzept Armee XXI leichtfertig geopfert worden. Die staatlichen Organe erklärten unser Land kurzerhand als «sicher» dank der mit der Nato eingegangenen «partnership for peace». Mit der Strategie eigenständiger Verteidigungsfähigkeit befasste sich niemand mehr.

Verfassungsauftrag aufgegeben

Aber in der Verfassung ist der Grundsatz autonomer Verteidigung noch immer verankert?

Es bedrückt, feststellen zu müssen, dass die verantwortlichen Organe – Bundesrat und Parlament – in ihrem Glauben an internationale Zusammenarbeit den in unserer Bundesverfassung verankerten Auftrag an die Behörden nach autonomer Verteidigungsfähigkeit nicht mehr ernst nehmen. Wer auf diesen Auftrag verwiesen hat oder noch immer verweist, erntet nur noch wegwerfende Handbewegungen – im Sinne von «Hör mir doch auf mit der Verfassung».

Für diese offensichtliche Vernachlässigung wohl überlegter, in der Verfassung verankerter Grundsätze müssen wir jetzt wohl einen hohen Preis zahlen – damit wir im Ernstfall unvorbereitet nicht einen noch viel höheren Preis – Verlust von Freiheit und Unabhängigkeit – bezahlen müssen.

Worauf gründet denn Ihre Kritik am Konzept «Sicherheit durch Kooperation»?

Da wurde völlig unbedarft ein oberflächliches Schlagwort zur sicherheitspolitischen Leitschnur ernannt. Auch der Bundesrat weiss, dass militärische Kooperation in Europa nur mit Nato-Armeen möglich ist. Anbindung an die Nato unterhöhlt indessen die Neutralität der Schweiz. Der Kleinstaat unterzieht sich den Grossen, die ihre Sicherheitspolitik auch nicht im Entferntesten auf Neutralität ausrichten. Unsere Neutralität ist und bleibt jedoch in der Verfassung verankert. Wer sie aufgeben will, müsste die Verfassung ändern.

Illusionen

Die Umsetzung solch internationaler Kooperation wurde erschreckend realitätsblind vorgenommen. Als Bundesrat Samuel Schmid an der Spitze des VBS stand, kaprizierte sich Bundesbern auf die Idee sogenannten «Peacekeepings». Damit sollten auch der Schweizer Armee Auslandeinsätze ermöglicht werden. Man klammerte sich dabei an die Idylle, wonach aus Friedens-Absicherung kaum je eine handfeste militärische Auseinandersetzung resultieren könne, und behauptete naiv, man könne eigene Truppen, sollten sie plötzlich bewaffneten Einsätzen ausgeliefert werden, jederzeit aus jedem Krisengebiet dieser Welt ausfliegen und nach Hause bringen. Wer sich an solchen Illusionen orientiert, ist als Verantwortlicher für die Gewährleistung der Sicherheit nicht mehr tragbar.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begann solch realitätsblinder Glaube indessen die offizielle Schweizer Sicherheitspolitik zu dominieren.

Der EU-Vertrag von Lissabon

Militärische Zusammenarbeit erfolgt innerhalb der EU – mit welcher zusammen die Schweiz mit Vorliebe Peacekeeping-Missionen übernehmen will – auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon. Was steht dazu in diesem Vertrag?

Der Vertrag von Lissabon gründet militärische Zusammenarbeit auf Bestimmungen, zu denen die neutrale Schweiz nur sagen kann: «Hände weg!». Der Lissabon-Vertrag ist die Grundlage für die «Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik» der EU (GASP). Der Vertrag formuliert eine unbedingte Beistandsverpflichtung und beabsichtigt die Schaffung einer EU-Armee. Unterzieht sich die Schweiz diesem Vertrag, dann ist ihre Neutralität liquidiert. Wenn der Bundesrat behauptet, alles was im Rahmen dieses Vertrags beschlossen werde, sei selbstverständlich neutralitätskonform, dann gibt er zu erkennen, dass er an der Neutralität nicht mehr interessiert ist, dass er sie vorsätzlich erodieren lässt.

Gemäss der mit EU- und Nato-Staaten eingegangenen Zusammenarbeit muss sich die Schweiz übrigens bereits heute den EU-Boykottmassnahmen gegen Russland anschliessen. Damit sind wir im Ukraine-Konflikt gegen Russland gerichtete Partei. Das beeinträchtigt unsere Sicherheit – und verhindert, dass wir zwischen Russland und der Ukraine als neutraler Staat «gute Dienste» leisten können. Aus Kooperations-Sucht wurden Positionen aufgegeben, die unserem Land während Jahrzenten Sicherheit, Unabhängigkeit, Frieden und internationale Wertschätzung gesichert haben.

Der Verteidigungsauftrag

Wie lautet heute eigentlich der Verteidigungsauftrag an die Armee?

Es ist keiner formuliert. In Artikel 58 der Bundesverfassung ist als Grundsatz festgehalten, dass die Armee unser Land und seine Bevölkerung zu verteidigen hat. Dieser Verfassungsauftrag wird von den Behörden längst nicht mehr umgesetzt. Und der Bundesrat weiss genau: Mit ihrem heutigen Bestand kann die Armee den ihr in der Verfassung zugeschriebenen Auftrag nicht mehr erfüllen.

Es besteht für unsere Armee kein Einsatzkonzept für den Fall, dass Verteidigung plötzlich notwendig würde. Ein «worst case», auf den sich jede ernstzunehmende Armee immer vorbereiten muss, wurde für die Schweiz gar nicht mehr formuliert. Man spricht deshalb nicht vom schlimmstmöglichen Fall, weil man mit dem heutigen Bestand an Kampftruppen zum Beispiel die Schweizer Südgrenze bereits nicht mehr zu sichern in der Lage wäre. Die Stärke der Armee misst sich nicht an einem auf Papier festgehaltenen Gesamtbestand. Sie misst sich allein an der Kampffähigkeit der Truppe.

Die «Weiterentwicklung der Armee» (WEA) entstand aus dem 2010 erarbeiteten Sicherheitsbericht. Angesichts dessen, was auf der Welt seither geschehen ist, ist dieser Bericht Makulatur. Statt dass sich die Verantwortlichen endlich mit den Bedrohungen von heute auseinandersetzen, wird die Frage nach dem schlimmstmöglichen Szenario, in dem Bundesbern und Armee im Notfall zu bestehen hätten, schlicht und einfach nicht gestellt.

Feststellung des Bedarfs

Was wäre aus Ihrer Sicht zu tun?

Wir haben heute das, was wir eben haben. Es ist in mancherlei Hinsicht zu wenig, ungenügend. Aber wir müssen im Moment damit auskommen, also bestmöglichen Einsatz damit gewährleisten und trainieren.

Zusätzlich müsste sofort der sich aus der Sicherheitslage ergebende Bedarf festgelegt werden. Es müssen Konzepte – und Varianten dazu – vorgelegt werden, wie die Armee raschmöglichst wieder in die Lage versetzt werden kann, gegen die festgestellten Gefahren und Bedrohungen im Ernstfall zu bestehen.

Wir haben jetzt noch siebzehn Füsilier-Bataillone – sicher krass ungenügend. Damit müssten wir gefährdete Grenzabschnitte sichern, gleichzeitig die Grossflughäfen, alle Kraftwerke, verschiedene Informationszentralen, aber auch terrorgefährdete Zentren mit grossen Menschenansammlungen wie Bahnhöfe usw. sichern. Wer behauptet, dafür genüge der heutige Armeebestand, hat keine Ahnung von den Voraussetzungen erfolgversprechender Sicherungseinsätze. Ich weiss von Stabsübungen, in welchen die Sicherung als gefährdet eingeschätzter Objekte bedrohungsgerecht trainiert wurde. Dabei zeigte sich, dass die heutigen Bestände bei Weitem nicht für den Schutz lebenswichtiger Objekte ausreichen. Nach meinen Informationen zeigte sich auch, dass für den Schutz von Verkehrsachsen – beispielsweise der mit Milliarden erstellten Neat – kein einziger Mann mehr zur Verfügung stand. Diese Tatsache illustriert den unaufschiebbaren Handlungsbedarf.

Hauptmängel

Welches sind die von Ihnen am nachdrücklichsten kritisierten Mängel?

Unsere Truppenverbände sind im Hinblick auf erfolgversprechende Verteidigung falsch konzipiert. Infanterie-Brigaden, die für Kampfführung ausgebildet sind, werden für sogenannte «Schutzaufgaben» aufgelöst. Nur gerade noch zwanzigtausend Mann werden für die Kampfführung ausgebildet. Richtig wäre, alle Infanteristen für den Kampf auszubilden und in Kampfverbände mit schweren Waffen zu gliedern. Das würde die Auflösung von Infanterie-Brigaden verbieten.
Kampftauglichkeit ist die anspruchsvollste Anforderung an den Soldaten. Wer kämpfen kann, kann auch bewachen und schützen, aber nicht umgekehrt. Zwischen kampffähigen Verbänden und nicht kampffähigen Schutz-Einheiten zu unterscheiden, ist grundfalsch.

Als Ernstfall-untauglich erachte ich auch die Führungsstruktur der Armee. Heute ist die Führung der Kampftruppen abgetrennt von der Führung der Schutztruppen. Damit kann der Fall eintreten, dass im gleichen Raum zwei Armee-Einheiten mit unterschiedlichen Aufträgen unter je unterschiedlichem Kommando operieren. Das würde im Ernstfall nie funktionieren. Kampfauftrag und Schutzauftrag im definierten Raum gehören unter das gleiche Kommando.

Untauglich ist auch das Konzept, die ganze Armee von einer zentralen Stelle in Bern aus («Führung ab Bern») zu kommandieren. Nur dezentralisierte Armee-Einsätze mit einem verantwortlichen Kommando für einen zugeteilten Raum können im Ernstfall bestehen. Man muss den Kampf «von vorne» führen – nicht vom Bürotisch in Bern aus.

Äussere und innere Sicherheit

Heute ist der Verteidigungsauftrag nicht mehr in erster Linie an der Landesgrenze zu erfüllen. Terroranschläge erfolgen überall. Die Unterscheidung zwischen äusserer und innerer Sicherheit wird darum schwieriger. Welche Aufgabe hat in diesem Zusammenhang die Armee?

Die Artikel 173 und 185 der Bundesverfassung verpflichten Parlament und Bundesrat, die Armee in ausserordentlicher Lage – zum Beispiel angesichts eines schweren Terroranschlags – auch zugunsten der inneren Sicherheit einzusetzen. Es ist in keinem dieser zwei Verfassungsartikel die Rede davon, dass innere Sicherheit ausschliesslich Aufgabe der Kantone wäre. Aus politischen Gründen hat man die Aufgaben der Armee zur Gewährleistung der inneren Sicherheit gleichsam «zurückgestellt». Wer für den Ernstfall vorbereitet sein will, muss indessen alle Aufträge, die ihm erteilt worden sind, erfüllen.

Der Bundesrat hat am 18. September 2015 eine Strategie zur Terrorismusbekämpfung bekannt gegeben. Darin wurde der Schutz gefährdeter Objekte und Einrichtungen in den Vordergrund gestellt. Ist man damit nicht auf dem richtigen Weg?

Schon früher wurden an die hundert lebenswichtige Objekte und Einrichtungen von höchster Priorität ausgeschieden. Müsste man solche Objekte und Einrichtungen (Flughäfen, Kraftwerke, Energiezentralen, Bahnhöfe, Verkehrsanlagen usw.) gesamthaft über längere Zeit militärisch sichern, dann ist dies mit einer Armee von hunderttausend Mann schlicht und einfach nicht möglich. Die Armee könnte sich mangels Personal nur noch auf einige wenige Objekte konzentrieren; der Rest bliebe ungeschützt. Eine unhaltbare Situation, die zeigt, wie weit die bundesrätlichen Absichten in seinem Strategie-Papier und die realisierbaren Möglichkeiten auseinanderklaffen.

Wo beginnen?

Was kann sofort verbessert werden?

Es ist sofort alles vorzukehren, dass der Milizcharakter unserer Armee wieder gestärkt wird. Es ist dafür zu sorgen, dass Milizoffiziere auch wieder in hohe und höchste Kommandi gelangen können.

Die Zentralisierung der Armee muss aufgegeben werden. Ich fordere bereits mit den heutigen Beständen die Schaffung zweier Armeekorps – wobei die Einerspitze («Chef Armee») verschwinden und durch ein breiter abgestütztes Entscheidungsgremium (u.a. mit den zwei Korpskommandanten) unter der Leitung eines Generalstabschefs ersetzt werden müsste. Das wäre jedenfalls ein guter Anfang.

Herr Küchler, ich bedanke mich für das interessante Gespräch.

Das Interview führte Ulrich Schlüer


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