Rudenz und der Bundespräsident

1. August 2004
Bundesfeier-Ansprache von Nationalrat Ulrich Schlüer, gehalten am 1. August 2004 in Dällikon ZH

Auf dem Rütli kommt sie derzeit auf unvergleichliche Art zur Geltung: Die eindrücklich einprägsame Sprache Friedrich Schillers, mit der er in seinem Schauspiel "Wilhelm Tell" dem Kampf um Unabhängigkeit, um Freiheit, um Gerechtigkeit ein zeitloses Denkmal gesetzt hat.

Verschiedene Szenen sind unvergesslich. Etwa die bewegende Auseinandersetzung zwischen dem aufbrausenden, das Abenteuer suchenden, dem Ruf der grossen weiten Welt erliegenden Ulrich von Rudenz einerseits, der den Wert von Freiheit und Recht erkennenden, am Hof der Fürsten aufgewachsenen Bertha von Bruneck andererseits. Der Heisssporn Rudenz glaubt blindlings, die Liebe seiner Bertha nur gewinnen zu können, indem er sich dem äusserlichen Glanz der Fürstenhöfe ergibt und anpasst. Er vermeint Grösse zu sehen, wo ihn doch nur machtprotzige Despotie blendet. Die Worte seines Oheims, des sterbenden Attinghausen, schlägt er in den Wind: Was soll er mit "Treue zu Bauern und Hirten" anfangen, wo er Habsburgs Grösse zum Greifen nah wähnt. Ja, Rudenz glaubt sich schämen zu müssen, weil einzelne Höflinge in ihm einen Abkömmling bloss des "Bauernadels" erblicken könnten. Er glaubt, das Leben zu verpassen, wenn er der "Welt der Taten" entsagen müsse, wenn er in den Tälern der Urschweiz "von den Kriegstrommeln ferngehalten" werde.

Der Glanz der Fürstenhöfe

Die junge Bertha, das im Glanz des Hofes aufgewachsene, unnahbar scheinende Fräulein hält ihm, der seinem Land untreu zu werden droht, kompromisslos den Spiegel vor Augen:


"Dürft Ihr von Liebe reden und von Treue,
der treulos wird an seinen nächsten Pflichten?
Der Sklave Österreichs, der sich dem Fremdling
verkauft, dem Unterdrücker seines Volks?"


So schüttelt sie den seine Wurzeln Verleugnenden aus seinen Utopien. Und unbarmherzig fährt Bertha weiter:


"Mich denkt Ihr auf der Seite des Verrats
zu finden? Eher wollt' ich meine Hand
dem Gessler selbst, dem Unterdrücker schenken,
als dem naturvergessnen Sohn der Schweiz,
der sich zu seinem Werkzeug machen kann!"


Eindrücklich präsentiert sie dann dem zuinnerst verwirrten Rudenz seine Berufung, seine Pflicht:


"Was liegt dem guten Menschen näher als die Seinen?
Gibt's schönre Pflichten für ein edles Herz,
als ein Verteidiger der Unschuld sein,
das Recht des Unterdrückten zu beschirmen?"


Und sie schliesst mit dem unmissverständlichen Aufruf:


"Steh zu deinem Volk,
es ist dein angeborner Platz."


"Steh zu deinem Volk - es ist dein angeborner Platz"

Rudenz liess sich wachrütteln von diesem Wort. Die Hohlheit höfischen Lebens fiel ihm im Angesicht des in der Urschweiz aufkeimenden Willens zur Freiheit wie Schuppen von den Augen. Ja, er machte sich zum Wortführer dieser Freiheit. Treue zur Schweiz, Treue zur in der Schweiz gelebten Freiheit, Treue zum in der Schweiz gewachsenen und geltenden Recht: Solche Treue ist zum Nährboden geworden für die darauf während Jahrhunderten gewachsene Demokratie, für unsere einzigartige direkte Demokratie, Kern des Sonderfalls Schweiz.

Ist sie, die Demokratie, denn auch heute, 713 Jahre nach dem auf dem Rütli geschworenen Bund der Freiheit gesichert? Steht unsere Demokratie noch auf jenem festen Fundament, zu dem Schiller mit seinem Schauspiel "Wilhelm Tell" soviel beigetragen hat?

Demokratie - in der EU

Da uns bekanntlich nie gleichgültig ist, was um uns herum geschieht, nähern wir uns der Frage nach dem Respekt der heutigen Machtträger vor der Demokratie via unser benachbartes Ausland. Dort ist ja eben erst gewählt worden. Gleichzeitig in 25 Ländern, in allen alten und neuen EU-Mitgliedstaaten: Das EU-Parlament wurde bestellt.

Mit merkwürdigem Resultat: In nahezu allen EU-Mitgliedstaaten, alten wie neuen, haben die Regierungsparteien die Wahlen deutlich verloren. Teilweise - in Deutschland, in Frankreich, in Italien - mussten die Regierenden gar Niederlagen katastrophalen Ausmasses einstecken.

Und was geschah darauf? In Ländern, die demokratischen Grundsätzen verpflichtet sind, zeitigen Wahlen doch in aller Regel Konsequenzen. Doch nicht so die Wahlen ins EU-Parlament: Als Resultat dieser demokratischen Wahl, in der fast alle Regierungen massive Niederlagen hinzunehmen hatten, geschah überhaupt nichts. Die von ihren Wählern geprügelten Staatschefs eilten schnurstracks an den nächsten EU-Gipfel. Dort prosteten sie sich zu. Sie feierten - aufs Sorgfältigste abgeschirmt von ihren Wählern - ein kompliziertes, gewunden und unübersichtlich formuliertes Papier als "historischen Durchbruch". Das Papier, ausgearbeitet von einem von oben ernannten Konvent, nennen sie "Verfassung". Die Bürgerinnen und Bürger hatten dazu bisher nichts zu sagen - weder zum Inhalt noch zum Gremium, das dieses Papier formuliert hat.

Inzwischen wollen in einigen Ländern die Bürger zwar mitentscheiden, wenigstens nachträglich über dieses Papier abstimmen. In einzelnen Staaten scheint dies zu gelingen. Aus andern, etwa aus Deutschland, verlautet dagegen überaus Merkwürdiges. Dort verwahrt sich die politische Elite, der Deutsche Bundestag, wortreich dagegen, Entscheide von historischer Tragweite einer Volksabstimmung - und damit den Zufälligkeiten unberechenbar agierender, möglicherweise gar von Populisten verführter Massen auszusetzen. Geschichte wollen die Machthabenden, den Herrenreitern von einst vergleichbar, selber schreiben - ganz allein, ungestört von Stimmbürgern. Das Volk, das zu vertreten sie vorgeben, weckt bloss Misstrauen bei ihnen - bei jenen, die sie ihr Land, wie jedermann verfolgen kann, von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat tiefer in die wirtschaftliche Misere reiten…

Demokratie - in der Schweiz

Nur: Ganz so fremd sind uns Eidgenossen die da zum Ausdruck kommenden herrschsüchtigen Marotten besserwisserischer Funktionäre, welche die Demokratie zum Tummelfeld von Populisten erniedrigen wollen, auch nicht ganz. Wir vernehmen sie auch in der Schweiz. Häufiger, lauter, folgenreicher als früher.

So, wenn vom Souverän neuerdings verlangt wird, er müsse begründen, warum er - etwa zu einem Einbürgerungsgesuch - Nein stimmen wolle. Und weil er sein Urteil begründen müsse, dürfe er nicht mehr an der Urne entscheiden. Begründen? Wem gegenüber muss sich denn der Souverän, in unserer Demokratie gemäss Verfassung das höchste Organ, fortan rechtfertigen? Wer steht denn neuerdings über dem Souverän? Wer masst sich an, zu entscheiden, ob der Souverän gut oder schlecht entschieden hat? Ob ein Entscheid akzeptabel oder zurückzuweisen sei?

Selbst der "Vater" unserer neuen, seit 1999 geltenden Bundesverfassung, alt Bundesrat Arnold Koller, lässt keinen Zweifel offen: Wer vom Souverän Begründungen zu politischen Entscheiden verlangt, der anerkennt diesen Souverän nicht mehr als Souverän, als oberstes Organ in der Demokratie. Weil er dessen in freier Abstimmung getroffenen Entscheid einer Oberinstanz unterstellt, die sich nicht mehr an die Regel von Mehrheit und Minderheit binden lassen will, die sich vielmehr anmasst, alles besser zu wissen als das Volk.

Der Souverän - oberstes Organ

Wo Demokratie gilt, wo Demokratie ernst genommen wird, da kann es gegen Volksentscheide kein Beschwerderecht geben. Auch der Verlierer respektiert den Mehrheitsentscheid! Wo dies nicht mehr gilt, da funktioniert die Demokratie nicht mehr. Dort aber, wo Demokratie respektiert wird, kann auch das Recht auf freie Abstimmung nicht eingeschränkt werden. Dies haben die Väter unserer Demokratie schon vor Jahrzehnten eindeutig festgeschrieben in der Verfassung. Und dieser Grundsatz wurde auch bei der Nachführung dieser Verfassung im Jahre 1999 bestätigt. Er ist festgehalten in Artikel 34 der neuen Bundesverfassung, wo jedem Bürger ausdrücklich sowohl die "freie Willensbildung" als auch die "unverfälschte Stimmabgabe" garantiert wird. Eine Garantie, die - ausser dem Souverän selber - niemand von oben herab zu widerrufen das Recht hat. Wer gewisse Formen von Volksabstimmungen - etwa Urnenabstimmungen - eingrenzt oder verbietet, wer vom Souverän Begründungen zu Volksentscheidungen verlangt, der gerät in unauflösbaren Widerspruch zur Garantie der unverfälschten Stimmabgabe. Er verwischt die Grenze zwischen Demokratie und autoritärer, auf Dekreten fussender Herrschaft. Das muss auch die Zürcher Regierung zur Kenntnis nehmen, wenn sie die unverfälschte Stimmabgabe zu Einbürgerungsentscheiden verbieten will.

Konventionen

Jene, welche in der beschriebenen Art die Demokratie beschneiden wollen, führen Konventionen, Ergebnisse internationaler Konferenzen als Rechtsgrundlage für ihre Beschränkungsdekrete an. Sie existieren, solche Konventionen. Kein Zweifel! Aber sie sind nie und nirgends von einem Souverän, von einem Volk demokratisch beschlossen und als gültig erklärt worden. Sie sind das Ergebnis von politischen Auseinandersetzungen, von machtpolitischem Seilziehen an internationalen Konferenzen, beschlossen von Diplomaten und Funktionären, nie von Stimmbürgern in demokratischen Auseinandersetzungen.

Es ist nicht zuletzt der äusserliche Glanz, das nicht selten unerträgliche Gepränge solcher Konferenzen, das über das Fehlen demokratischer Legitimierung vieler Konferenz-Beschlüsse hinwegzutäuschen hat.

Und da fragen wir: Wo sitzen sie, die getreu für die Werte der Schweiz, für die Werte der Demokratie, für die Werte vom in unserer Demokratie geschaffenen Recht einstehen? So wie Rudenz es von seiner Bertha lernen musste. Können wir uns auf sie verlassen, auf jene, die unser Land mit seiner direkten Demokratie und mit seinen Volksrechten in internationalen Konferenzen vertreten?

Lieber ins Ausland …

Zweifel sind des öfteren angebracht: Etwa dann, wenn wir gern den Inhalt wichtiger bilateraler Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union vertieft und fundiert diskutieren möchten. Die Verhandlungen sind seit einigen Wochen beendet. Papiere mit darauf festgehaltenen Vereinbarungen existieren. Zur Zeit sind sie in der Vernehmlassung. Die wichtigsten Papiere liegen zu einem kleinen Teil in französischer, zum grösseren Teil aber bloss in englischer Sprache vor. In unserer eigenen Sprache, in jener Sprache, die aus diesen Vereinbarungen heraus in unsere Gesetze Eingang finden soll, existieren die Papiere nicht. Als wäre es nicht ein fundamentales Recht der Bevölkerung, für sie verbindlich Werdendes in der Sprache studieren zu dürfen, in der jedermann auch komplizierte Tatbestände aufzunehmen in der Lage ist.

Als die für die Verhandlungsergebnisse zuständige parlamentarische Kommission, die Aussenpolitische Kommission, aus dem Mund des Bundespräsidenten die Ergebnisse der Verhandlungen und deren Konsequenzen hätte entgegennehmen wollen, musste die Aussprache auf ein paar wenige Minuten begrenzt werden. Der Bundespräsident habe, wurde den Kommissions-Mitgliedern beschieden, einen wichtigen Termin im Ausland wahrzunehmen. Im Fernsehen wurde dann am gleichen Abend sichtbar, was für ein wichtiger Auslandtermin unseren Bundespräsidenten von der Diskussion mit den gewählten Volksvertretern abgehalten hat: Die Nato - deren Mitglied wir zwar weder sind noch werden wollen - hatte zur Gipfelkonferenz nach Istanbul gerufen. Unser Bundespräsident durfte sich zusammen mit den Grossen dieser Welt auf dem Gruppenbild präsentieren. Er schaffte es, einen Platz unmittelbar hinter dem Meistfotografierten, hinter US-Präsident George Bush zu ergattern: Ihm offenbar wichtiger als die gründliche Diskussion der Konsequenzen von Vereinbarungen mit der Europäischen Union.

Wenige Tage später, am Staatsbegräbnis des österreichischen Präsidenten, schaffte es Bundespräsident Deiss erneut in den Windschatten eines Medienstars: Er habe ein paar Sätze mit Arnold Schwarzenegger, dem aufsteigenden Stern von Kalifornien wechseln können, wurde dem staunenden - oder verärgerten - Schweizer Publikum in gross aufgemachten Schlagzeilen serviert.

Steh zu deinem Volk, es ist dein angeborner Platz

Was sagte doch die vornehme Hofdame Bertha von Bruneck im "Wilhelm Tell" zu ihrem Rudenz, als dieser dem Glanz vermeintlicher weltpolitischer Grössen erliegen wollte:


"Was liegt dem guten Menschen näher als die Seinen?
Gibt's schönre Pflichten für ein edles Herz,
als ein Verteidiger der Unschuld sein,
das Recht der Unterdrückten zu beschirmen?
Die Seele blutet mir um Euer Volk,
ich leide mit ihm, denn ich muss es lieben,
das so bescheiden ist und doch voll Kraft,
es zieht mein ganzes Herz mich zu ihm hin,
mit jedem Tage lern ich's mehr verehren."


Und dann, schnörkellos, gültig auch für die, die im Namen der Schweiz derzeit von internationaler Konferenz zu internationalem Treffen hasten:


"Steh zu deinem Volk,
es ist dein angeborner Platz."


Ulrich Schlüer


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