«Dringendes Bedürfnis»


Bundesgericht gängelt Konsumenten

Kommentar für die Rubrik "Akzent" in der "Schweizerzeit" vom 13. August 2010

Es sei Gott auf Knien gedankt: Endlich verfügen wir in der Schweiz über eine Institution, die uns verbindlich zu sagen vermag, was für uns Bürgerinnen und Bürger nachts zwischen 01.00 und 05.00 Uhr «dringendes Bedürfnis» sein darf – und was, andererseits, für uns in diesen Nachtstunden durchaus entbehrlich sei.

Unterscheidungen

Als dringlich und folglich unaufschiebbar wird für diese Nachtstunden ein allfälliges Bedürfnis nach einem «Snack» eingestuft – wozu selbst ein gebrätelter Servelat gehöre. Solches dürfen wir während 24 Stunden einkaufen und verzehren, dafür selbst Personal in Tankstellenshops beanspruchen. Wer anderseits einen Servelat lieber roh essen möchte – der muss warten bis zum Morgengrauen. Rohen Servelats kann unser Bundesgericht keine Dringlichkeit abgewinnen. Als dringend wird dagegen das Bedürfnis nach Treibstoff anerkannt – auch wenn wir die Grünen darob schon zum Sturmlauf gegen dieses Pauschalurteil antreten sehen, das auf einen Dringlichkeits-Nachweis für eine beabsichtigte Fahrt offenbar zu verzichten bereit ist. Auch der Kaffee während der Betankung des Fahrzeugs wird als «dringlich» geduldet – wie überhaupt alles, das unter «take away» läuft – oder doch fast alles.

Für die Pizza, zweifellos auch ein Mitnahmeprodukt, hat das Bundesgericht wiederum ein gleiches Verkaufsverbot für Nachtstunden verfügt wie für den Rohess-Servelat. Und auch der Abfallsack müsse von den Dringlichkeitsprodukten kategorisch abgetrennt werden. Die Säuberungs-Angestellten werden’s, wenn sie nach Tagesanbruch die unappetitlichen Folgen des nächtlichen Abfallsack-Verkaufsverbots zu beseitigen haben, den hohen Richtern zu Lausanne zu danken wissen.

Ob ganz normales Wasser zum Dringlichen gehört – dazu produziert das Bundesgericht schlicht eine Gesetzeslücke. Der Rechtsstreit über die Einstufung eines normalen Guetzli (Snack oder Normal-Nahrungsmittel?) dürfte demnächst einsetzen. Nicht undenkbar, dass einzelne Guetzli-Kategorien die Zuteilung zum «dringenden Bedürfnis» noch schaffen werden…

Schichtarbeiter

Und dann gibt es ja auch noch die Schichtarbeiter, von denen es sich in der Vergangenheit nicht wenige zur Gewohnheit gemacht haben, nach Beendigung ihrer Spätschicht, beispielsweise morgens um 02.00 Uhr regelmässig das Nötige in einem offenen Tankstellenshop noch einzukaufen – damit der eigentlich fürs Schlafen reservierte kommende Vormittag nicht fürs Einkaufen unterbrochen werden muss. Eine zweifellos nachvollziehbare Haltung – zu der jetzt aber ein Richterspruch notwendig sein dürfte: Welches Bedürfnis ist «dringender» – jenes des Schichtarbeiters nach einigen Stunden ununterbrochenen Schlafes oder die generelle Abschliessung von Normal-Nahrungsmitteln zu nachtschlafener Zeit? Die Juristen, die an diesem Streitfall gar manchen Tausender verdienen werden, reiben sich bereits erwartungsfroh ihre Hände.

Weitere Bedürfnisse

Schliesslich gibt es noch weitere, durchaus nach letztinstanzlichen Entscheidungen rufende Bedürfnisse, die nach dem bundesgerichtlichen Ukas zum Schutz überlasteten Nachtpersonals in Tankstellenshops vordringlich zu regeln sind. Tankstellenshops verfügen in der Regel über Anlagen, wo bestimmte menschliche Bedürfnisse erledigt werden können. Diese befinden sich meist ausserhalb des Shops. Weil wir Gerichten manches Larifari-Urteil bezüglich illegalen Drogenkonsums verdanken, müssen die meisten dieser ausserhalb der Tankstellenshops eingerichteten WC-Anlagen während ihrer Nichtbenutzung abgeschlossen werden. Wer ein Bedürfnis befriedigen will, muss beim Shop-Personal den Schlüssel verlangen.

Wie steht es nun mit der Bedürfnis-Befriedigung bei Nacht – zwischen 01.00 und 05.00 Uhr? Wann ist solche Bedürfnis-Befriedigung «dringend» – so dass Personal dafür zur Schlüsselaushändigung und gelegentlichen Kontrolle rund um die Uhr in Anspruch genommen werden darf? Und wann wird es mit der Schlüssel-Überreichung und -Rücknahme unangemessen überfordert? Muss derjenige, der nach Bedürfnis-Befriedigung verlangt, dem Personal fortan einen Durchfall-Nachweis mittels ärztlichem Attest bezeugen, damit seinem Bedürfnis «Dringlichkeit» zugebilligt werden kann? Darf das – gemäss Gewerkschafts-Ideologen gravierend überforderte – Personal anderen, die entsprechenden Nachweis nicht vorlegen können, höflich aber bestimmt die Verschiebung des Bedürfnisses auf die Stunde des Morgengrauens zumuten?

Für den Fall, dass sich solch richterlich festzulegende Entscheidung durchsetzen sollte, hätten wir eine Anregung: Man möge Betroffenen, die zur Aufschiebung ihrer Bedürfnisse angehalten werden, doch jeweilen eine Adressliste abgeben mit den Namen jener Gewerkschafter und Richter, denen wir die amtliche Dringlichkeitsregelung in unserem Staat zu verdanken haben. Würden diese zu nachtschlafener Stunde höflich angefragt, ob man bei ihnen… – sie würden zweifellos unverzüglich und bereitwillig ihre Haustüren öffnen.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch