Pukelsheim und Co.


Unterschiedliche Anforderungen an Wahlverfahren

Kommentar für die Rubrik "Akzent" in der "Schweizerzeit" vom 25. Juni 2010

Wo immer in Schweizer Kantonen noch kleine Wahlkreise für die Bestellung des Kantonalparlaments existieren, räsonieren Staatsrechtler mit gefurchter Stirn über angeblich nicht respektierten Wählerwillen. Denn wo ein Wahlkreis nur wenige Sitze zu vergeben habe, da würden die etablierten Parteien bevorzugt, die neuen und kleinen Parteien aber benachteiligt. Sagen die Staatsrechtler. Denn neue Parteien müssten in einem Wahlkreis mit z.B. nur vier Sitzen nahezu unmögliche zwanzig Prozent aller Stimmen erreichen, bis ein Sitz im Kantonsparlament nur schon in Reichweite käme. In Wahlkreisen mit vielen Sitzen genügten dagegen drei bis fünf Prozent zur Ergatterung eines Sitzes. Nur dieser kleine Prozentsatz eröffne Chancen. Nur solch kleiner Prozentansatz sei gerecht.

Numerische Gerechtigkeit

Im Dienste der Herstellung angeblich «numerischer Gerechtigkeit» wurde ein deutscher Professor – er heisst Pukelsheim – bemüht, auf dass er der Schweiz «mehr Gerechtigkeit» in Parlamentswahlen beibringe. Professor Pukelsheim präsentierte alsbald ein neues, kompliziertes Wahlverfahren, das kleinen Parteien erlaubt, erreichte Wählerstimmen so zusammenzufassen, dass Wahlkreis-Grenzen gewissermassen gesprengt werden, grenzüberschreitende Addition also Zusatz- oder überhaupt Sitze garantiere.

Professor Pukelsheims Verfahren wird derzeit einem Kanton nach dem andern aufgedrängt – meist mit der Drohung unterlegt, das Bundesgericht werde dem, der es nicht freiwillig übernehme, schon Beine machen. Lausanne könne Pukelsheim um der demokratischen Gerechtigkeit willen auch zwangsweise verordnen.

Mathematiker diktieren

Das Pukelsheim-Verfahren hat grossen Parteien – ohne dass diese Wähler verloren hätten – erheblich Sitze weggenommen. Der SVP wahrscheinlich am meisten. Das neue Wahlverfahren teilte kleinen, zumeist eher links stehenden Splitterparteien dafür mehr Sitze zu – von oben herab, nicht vom Wähler gewollt.

Allerdings: Der Vormarsch der SVP in allen Kantonen konnte mit dem neuen Verfahren zwar leicht verzögert, keineswegs aber gestoppt werden. Die künstlich herbeigeführten Pukelsheim-Verluste konnte die SVP in nahezu allen Kantonen durch Erhöhung ihrer Wähleranteile in der nächstfolgenden Wahl bereits wieder ausgleichen, oft sogar übertreffen.

Relikt Graubünden

Es gibt in der Schweiz noch einen einzigen Kanton – Graubünden –, der sein Parlament im Majorzverfahren, also in Einer-Wahlkreisen wählt. Dort muss eine neue, kleine Partei also gegen fünfzig Prozent aller Stimmen erreichen, bis sie sich gegen Etablierte durchsetzen kann – ein fast unüberwindliches Wahlhindernis. Es müsste Herrn Pukelsheim die Zornesröte ins Gesicht treiben. Doch niemand, absolut niemand bemüht den Professor Pukelsheim in den Kanton Graubünden. Und kein Bundesgericht droht Intervention von oben an.

Warum wohl? Etwa deshalb, weil die Anwendung der Pukelsheimer Wahlzähl-Methode in Graubünden nicht – wie in allen andern Kantonen – die SVP schröpfen würde? Weil der Bündner Pukelsheim die SVP vielmehr nachhaltig begünstigen würde…

Man sieht: Was in Zürich, in Bern, im Aargau allein als «gerecht» bezeichnet und unter Bundesgerichts-Androhung durchgesetzt wurde, davon wird Graubünden stillschweigend verschont. Gerecht ist nicht, was Wähler begünstigt. Schreibtisch-Gerechtigkeit herrscht in helvetischen Landen erst, wenn die SVP um Wahlerfolge gebracht werden kann.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch