Israel 2012 (Teil 3)

Reisenotizen aus einer Krisenregion (Teil 3/3)
Publiziert in der "Schweizerzeit" Nr. 17 vom 14. September 2012

Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Die Eindrücke zur heutigen Lage in Israel wurden gewonnen aus persönlichem Augenschein an neuralgischen Orten, aus Gesprächen mit Strategen, mit Richtern, mit Politikern und Journalisten, auch mit Taxifahrern und vor allem auch mit zufällig angetroffenen Personen.

In der Erinnerung verankert bleibt das lange Gespräch mit dem im Aargau aufgewachsenen Richter Englard, heute prominentes Mitglied des Obersten Gerichtshofs Israels.

Habeas Corpus-Recht
Der Oberste Gerichtshof Israels weist eine Besonderheit auf: In sog. «Habeas Corpus-Fällen» kann jemand, der sich in seinen Grundrechten getroffen fühlt, persönlich und direkt beim Obersten Gericht Israels Klage einreichen. Dieses muss ein Urteil dazu innert kürzester Zeit fällen.

Richter Englard präsentiert ein Beispiel: Ein Mann wurde vor rund fünf Jahren wegen eines Verbrechens zu einer Gefängnisstrafe rechtsgültig verurteilt. Weil alle Gefängnisse voll belegt waren, musste er auf Zusehen hin freigelassen werden. Fünf Jahre später wurde er ohne jede Voranzeige plötzlich verhaftet und dem Strafvollzug zugeführt.

Der also aus dem Zivilleben Gerissene reicht sofort Habeas Corpus-Klage beim Obersten Gericht ein. Ein Einzelrichter hat ohne jeden Verzug über Annahme oder Ablehnung der Klage zu entscheiden – selbst am Wochenende. Die Klage wurde angenommen. Der zuständige Einzelrichter verlangte darauf die sofortige Vorführung des Klägers sowie eine anlässlich der kurzfristig anberaumten Verhandlung mündlich vorzutragende Begründung von Polizei und Justiz für das dem Kläger gegenüber angewandte Verfahren. Weil diese Begründung ungenügend war, kam der Gefangene ziemlich genau zwölf Stunden nach seiner Inhaftierung aufgrund des Richterspruchs des Obersten Gerichts wieder frei.

Dem Urteil musste unverzüglich Folge geleistet werden. Nichtbeachtung oder Verzögerung eines Habeas Corpus-Urteils hätte eine empfindliche Bestrafung der für den Vollzug zuständigen Justiz- oder Polizeibehörde zur Folge gehabt.

Richter Englard lobt dieses Habeas Corpus-Recht ausdrücklich. Es schütze Einzelpersonen wirksam vor willkürlicher Behandlung durch Polizeistellen und Justizorgane; es sei damit auch Ausweis des funktionierenden Rechtsstaats in Israel.

Konfliktgründe
Immer wieder prägt der Konflikt zwischen Israel und den auf israelischem Territorium wohnhaften Palästinensern die Gespräche. Je mehr «Anschauungsunterricht» der sich selbst an Ort und Stelle umschauende Besucher erhält, desto stärker wachsen die Zweifel an der Berichterstattung der Weltmedien. Die Lage in Palästina ist offensichtlich ruhig – ruhiger als in jedem arabischen Staat in Nordafrika und in Nahost. In den Medien oft beschworene Fronten zwischen Konfliktparteien verschwimmen bei persönlichem Augenschein. Die israelischen Siedlungen auf dem Sinai, im Gaza-Streifen und im Norden Israels (Samaria) sind geräumt. In den sog. A-Zonen wohnt kein Israeli mehr. Diese A-Gebiete unterstehen palästinensischer Autonomie und Selbstverwaltung.

Hat die im Rahmen des Oslo II-Prozesses getroffene Gebietsaufteilung Entspannung gebracht? Für die dort wohnhafte Bevölkerung offensichtlich schon. Seitens der politischen Führer haben sich die Konflikt-Fronten allerdings bloss verschoben. Die Führer der Palästinenser verfolgen eine «Alles oder Nichts-Politik». Sie scheinen überall dort zu attackieren, wo sie Israel an einer «schwachen Stelle» glauben treffen zu können. Die Bevölkerung bleibt, so erfährt es zumindest der Besucher, eher teilnahmslos, jedenfalls ruhig. Die Konflikte spielen sich vor allem auf der Ebene der politischen Führungen ab. Und die Sprecher der sog. «Internationalen Gemeinschaft» ziehen sich auf Schlagwort-Politik zurück.

Die Forderung nach einer «Zwei-Staaten-Lösung» ist Teil solcher Schlagwort-Politik – wobei die Führung der Palästinenser und die israelische Regierung unter Zwei-Staaten-Politik zwei deutlich unterschiedliche Modelle im Visier haben. Die Palästinenser verlangen nach einem einzigen Staat, in welchem den Juden ein Minderheiten-Status eingeräumt werden soll. Die Juden treten, wenn überhaupt, für zwei voneinander unabhängige, von allen Staaten der Region und auch von der Uno formell anerkannte Staaten ein: Palästina einerseits, Israel andererseits.

Die Juden verlangen damit die ausdrückliche Anerkennung des Existenzrechtes für Israel. Zu dieser Forderung bleibt die Palästinenser-Führung stumm, den Juden allenfalls einen – nicht genauer definierten – Minderheiten-Status versprechend. Aus dieser Unbestimmtheit wächst die Existenzangst der Juden: Solange der Tatbeweis bezüglich Existenzrecht Israels von den Arabern nicht geleistet wird, geben die Juden ihre unter grossen Opfern errungenen Positionen nicht auf.

Golan
Genau dreissig Jahre nach einem ersten Besuch ist die Golan-Hochebene kaum wiederzuerkennen. Zwar lässt der Steilabfall ins Tal des Sees Genezareth und seines Zuflussgebiets sofort wieder erkennen, welch unvergleichliche militärische Leistung den Israelis im Sechstagekrieg von 1967 mit der Eroberung des Golan gelungen ist.

Vor dreissig Jahren war die Hochebene des Golan karg – nichts als ideales Panzer-Aufmarschgebiet. Das landwirtschaftliche Können der Israeli hat die Landschaft völlig verändert. Heute wächst auf dem Golan alles, was sich überhaupt vorstellen lässt: Getreide, Baumwolle, vielerlei Gemüse, Wein, Beeren, Früchte, Obstgärten. Bewundernswerter Leistungswille und perfektionierte Bewässerungstechnologie liessen diesen «Paradiesgarten» entstehen. In der Schweiz aber schalten eifernde (geifernde?) Kirchenfunktionäre des Heks hasserfüllte Inserate zwecks Diskreditierung dieser landwirtschaftlichen Meisterleistung als illegale Landnahme. War der unbebaute, bloss mit syrischen Panzerstellungen bestückte Golan, von dem periodisch die jüdischen Siedler unten im Tal beschossen wurden, aus Sicht der gut besoldeten Kirchenfunktionäre denn früher in besseren Händen? Haben die Juden Israels aus Sicht dieser wohlbesoldeten Kirchenfunktionäre kein Recht auf friedliche Koexistenz?

Daniel
Ganz im Norden Israels, im Kibbuz Malkiya treffen wir Daniel, einen «Zürcher Seebuben», der 1982 nach Israel ausgewandert ist und heute in seinem Kibbuz für sechshundert Stück Grossvieh verantwortlich ist. Der Kibbuz Malkiya liegt unmittelbar an der libanesischen Grenze. Immer wieder treffen Raketen, abgeschossen von der Hisbollah in Südlibanon, den Kibbuz. Eines dieser eingeschlagenen Geschosse trägt Daniel mit sich – als Anschauungsunterricht.

Die Grenze zum Libanon ist die heute am stärksten bedrohte Grenze Israels. Israelische Panzereinheiten sind zur ständigen Bewachung im und beim Kibbuz stationiert. Wir begegnen einer Kampfpanzer-Einheit, sprechen mit dem Kommandanten und seiner (blutjungen) Mannschaft. Auf der andern Seite der Grenze, nur fünfzig Meter von unserm Standort bei den Panzern entfernt, ist ein Uno-Beobachtungsposten eingerichtet, erkennbar an der flattenden Uno-Fahne. Die Uno ist also präsent. Von der Wirksamkeit dieser Präsenz spüre man im Kibbuz, erzählt Daniel, allerdings kaum etwas.

Israel hat seine Verteidigung nicht dem Zufall überlassen. In jeder Zone ist die Bevölkerung genau orientiert, in wieviel Minuten eine im Flug entdeckte Rakete einschlägt. Zumeist reicht die Zeit, um Familie und Kinder im Schutzkeller in Sicherheit zu bringen. Der Kibbuz Malkiya ist besonders exponiert. Er liegt in der Zone mit «Vorwarnzeit Null». Den Abschuss der feindlichen Rakete höre man sehr wohl – Folge des Überschallknalls. Genau sieben Sekunden später erfolge der Einschlag.

Eine Gedenkstätte im Kibbuz erinnert an die über fünfzig tödlich getroffenen Opfer der Hisbollah-Raketen.

Ein Vorgehen der Uno-Beobachter gegen die unmittelbar jenseits der Grenze längst ausgemachten Nester der Hisbollah-Milizen sei bis heute nie zu beobachten gewesen. Daniel äusserst sich zur Lage von heute nicht ohne Bitterkeit: Er sei, sagt er offen, 1982 als bekennender, idealistischer linker Jude zur Kibbuz-Bewegung gestossen. Die Erfahrung an der Grenze habe ihn erschüttert. Die sehr theoretisch begründete Parteinahme seiner ehemaligen Genossen quittiert er heute nur noch mit ungläubigem Kopfschütteln.

Frühling
Es war heiss in Israel Ende Mai 2012, mitunter sehr heiss. Die politische Lage erschien dagegen fast merkwürdig kühl. Der «arabische Frühling», also die nahezu den ganzen Nahen Osten sowie Nordafrika erschütternden Unruhen in den arabischen Staaten haben nicht auf Palästina übergegriffen. Palästina, von den Weltmedien seit Jahren als eine der gefährlichsten Konfliktzonen bezeichnet, blieb ruhig, ist weiterhin ruhig.

In den Palästinenser-Gebieten herrscht orientalische Geschäftigkeit. Aber friedliche Geschäftigkeit. Vor allem in Ramallah erlebt man das Gewühl, das viele orientalische Städte prägt. Von Unruhe, von Konfliktangst, von Konfliktbereitschaft ist dagegen nichts zu verspüren. Natürlich gibt es die Checkpoints. Natürlich gibt es die Kontrollen. Natürlich wird die Entwicklung zu jeder Stunde mit grösster Aufmerksamkeit verfolgt. Dennoch: Die Erschütterungen, welche die arabischen Staaten seit 2010 aufgewühlt haben, haben die Palästinenser-Gebiete in Israel bis heute nicht erreicht und schon gar nicht angesteckt.

Fragt man – auch auf palästinensischer Seite – nach den Gründen für die offensichtliche Ruhe, wird allerdings kaum mit mehr als viel- oder nichtssagendem Achselzucken reagiert. Vielsagend, falls die beobachtete ruhige Lage nicht bloss oberflächliche Täuschung ist. Nichtssagend, wenn dem Besucher aus Europa verborgen bleiben soll, was sich unter der Decke der Ruhe allenfalls heranbildet.

Israel ist und bleibt eines der interessantesten, vielseitigsten, eindrücklichsten Länder – nicht bloss des Nahen Ostens.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch