Begehrte Landbrücke

Georgien und Armenien: Zwei Länder am Ostrand Europas (1. Teil)

Reisenotizen von Ulrich Schlüer

27 Teilnehmer umfasste die «Schweizerzeit»-Reisegruppe, die in der zweiten Hälfte Mai bei sommerlichem, warmem Wetter – wer in der Schweiz zurückgeblieben war, fror in diesen Tagen jämmerlich – zwei noch weitgehend unbekannte Länder bereiste: Georgien und Armenien.

Seidenstrasse
Georgien bildet den Westteil der Landbrücke zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. In Georgien nahm schon im Mittelalter die nach China führende Seidenstrasse ihren Anfang. Ist der Landweg für den China-Handel auch nicht mehr von dominanter Bedeutung, so ist die Verkehrsader über die recht breite Landbrücke zwischen den beiden Meeren, deren östlicher Teil in Aserbaidschan liegt, weiterhin das wirtschaftliche Rückgrat Georgiens: Sind Verkehr und Handel rege, dann erlebte und erlebt Georgien gute Zeiten.

Heute allerdings ist die Funktionsfähigkeit dieser Verkehrsader gestört. Nicht nur, weil die Strassenbeläge, je weiter weg man sich von der Hauptstadt Tbilisi bewegt, in bedenklichem Zustand sind. Noch schwerere Beeinträchtigung resultiert aus der Zerstrittenheit der Staaten (zumindest ihrer Regierungen) am westlichen Ende der Seidenstrasse. Weder in Richtung Türkei noch in Richtung Russland fliesst der Verkehr ungestört. Politische Gegensätze beeinträchtigen den Handel – und damit den Wohlstand Georgiens – markant.

Die zahlreichen Seitentäler zur Hauptverkehrsader entlang der breiten Landbrücke, die zwischen dem Grossen Kaukasus im Norden und dem Kleinen Kaukasus im Süden zwei Meere verbindet, sind von beeindruckender Schönheit, allerdings auf schlechten Strassen nur schwer zugänglich. Wirtschaftlich spielen sie, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Mangels Zugänglichkeit bleiben die meisten dieser Seitentäler – wo nicht selten eindrücklich grosse Schafherden den ganzen Verkehr zum Erliegen bringen – den Touristen verschlossen.

Drei übermächtige Nachbarn
Georgien ist ein Kleinstaat an zwar attraktiver, aber auch höchst gefährdeter Lage. Mächtigere Nachbarn warfen und werfen nur allzu oft begehrliche Augen auf die attraktive Passage zwischen den beiden Meeren. Diese war nie bloss Handelsstrasse. Manches Heer hat sie – von Ost nach West wie von West nach Ost – ebenfalls genutzt. Zumeist blutige Spuren hinterlassend.

Drei Nachbarn Georgiens sind Grossmächte. Östlicher – wenn auch nicht direkt angrenzender – Nachbar ist der Iran, westlicher die Türkei. Georgien, Kleinstaat zwischen diesen beiden regionalen, keineswegs immer bloss defensiv eingestellten Grossmächten, wurde oft das Opfer kriegerischer Vorstösse – aus dem Westen wie aus dem Osten.

Im Lauf der letzten paar Jahrhunderte hat sich auch der nördliche Nachbar, Russland, zu einer – oft bedrohlichen – Grossmacht entwickelt. Zur Zeit der Sowjetunion war Georgien eroberte Provinz. Dass der gefürchtetste Diktator des Kremls, Josef Stalin, ein Georgier war, bescherte dem unterdrückten Staat kein leichteres Los.

Heute sind die Beziehungen zwischen Georgien und Russland gespannt. Der Krieg zwischen den beiden Staaten liegt erst fünf Jahre zurück. Russland besetzt zwei grosse Gebiete, welche die Georgier für ihren Staat beanspruchen: Abchasien und Südossetien. Via Südossetien haben die Russen den Krieg gegen Georgien entschieden. Starke russische Panzerverbände konnten via Südossetien nahezu unbemerkt bis in die Nähe der georgischen Hauptstadt Tbilisi vorgeschoben werden.

Der modern ausgerüstete Teil der nicht sehr grossen georgischen Armee stand derweil im Irak zur Verstärkung der US-Streitkräfte. Georgien hatte darauf vertraut, die Nato würde sich, sollten die Russen tatsächlich angreifen, schon für Georgien einsetzen. Georgiens Regierung täuschte sich. Keine Grossmacht war bereit, wegen des Kleinstaats Georgien einen schweren Konflikt, möglicherweise gar eine kriegerische Auseinandersetzung mit Russland zu riskieren. Der wehrlose Kleinstaat musste klein beigeben.

Wehrhaftigkeit
Eigenartig, dass die beiden christlichen Kleinstaaten im Kaukasus – Georgien und Armenien – in historischer Zeit nie die Entscheidung getroffen haben, zur Behauptung und Verteidigung ihrer angesichts der gefährlichen Nachbarn stets bedrohten Position eine aureichend starke Verteidigungs-Streitmacht aufzustellen. Unterbleibt diese Anstrengung, dürften beide Länder immer mehr oder weniger ausgeprägt Spielball der sie umgebenden Grossmächte bleiben. Verhalten sich diese friedlich, geniessen auch die beiden Kleinstaaten im Kaukasus ruhige Zeiten. Entstehen zwischen diesen Grossmächten Spannungen oder gar Konflikte, wird es für die wehrlosen Kleinen sehr rasch brenzlig. Definitiv untergegangen sind indessen je weder Georgien noch Armenien. Aber beide Völker mussten immer wieder lange und schwere Zeiten harter, oft blutiger Knechtschaft über sich ergehen lassen.

Trotzdem entwickelt sich weder in Georgien noch in Armenien nachhaltiger Verteidigungswille.

Landschaft
Georgien ist ein Land von atemberaubender Schönheit. Die Altstadt von Tbilisi wurde sorgfältig restauriert. In einer Talenge gelegen, findet sich der Besucher darin rasch zurecht. Das Stadtbild wird geprägt von grossen Kathedralen einerseits, von spektakulären, modernen Glaspalästen andererseits. Das futuristisch anmutende Justizministerium sei, erzählen die Georgier stolz, das erste völlig papierlose Verwaltungsgebäude der Welt. Aber selbst jene zum Beispiel einen Reisepass begehrenden Bürger, denen die Computerwelt noch fremd sei, fänden sich darin rasch zurecht.

Das Stadtbild von Tbilisi aber prägt die grossartige Dreifaltigkeits-Kirche, die Zninda-Saneba-Basilika, mit goldenem Turm hoch über der Stadt gelegen. Wo immer man sich befindet, so kann man sich immer an diesem goldenen Turm, gleichsam dem Wegweiser fürs Leben, orientieren.

Die von Hügeln, von hohen Bergen und tiefen, oft schroff abfallenden Tälern geprägte Landschaft Georgiens erhält ihren Charakter durch die vielen, oft sehr alten Klöster und Kirchen. Von weithin sichtbaren, steil vorspringenden Felsen oder von stolzen, ihre Umgebung beherrschenden Bergkuppen herab überblicken und überwachen all die Kirchen und Klöster Land und Leute. Das kirchliche Leben ist rege. Der christliche Glaube ist die Klammer, welche das Volk einigt, auch wenn die politische Zerstrittenheit den Besucher immer wieder ungläubig den Kopf schütteln lässt.

Die Seitentäler – ebenfalls grossartige Kloster- und Kirchenbauten bergend – sind, soweit wir sie überhaupt zu Gesicht bekamen, von in Erinnerung bleibender Schönheit: Schroffe, hohe Felswände, tief eingegrabene Täler und Schluchten – dahinter die erhabene, zumeist schneebedeckte Kette des Grossen Kaukasus, dessen höchste Gipfel fünftausend Meter übersteigen.

Eines allerdings bleibt dem Besucher unverständlich: Dass die Georgier, sich der grossartigen Schönheit ihres Landes zweifellos bewusst, so demonstrativ sorglos, teilweise abscheulich achtlos mit ihrem Abfall umgehen. Längs aller Strassen breitet sich beidseits eine nicht enden wollende, dreissig bis fünfzig Meter breite hässliche «Piste» aus weggeworfenen Plastiksäcken und Petflaschen aus.

Christentum
Georgien und Armenien sind christliche Inseln in einer muslimischen Welt. Nicht nachvollziehbar deshalb, weshalb sich die beiden Länder auch miteinander gespannte Beziehungen leisten. Die diplomatischen Kontakte sind abgebrochen. Man kann die Landesgrenze am Boden zwar ohne nennenswerte Verzögerung passieren. Die Reserve, mit welcher Georgier und Armenier miteinander umgehen, erstaunt dennoch. Ist es nur eine von den Regierungen künstlich herbeigeführte Spannung? Oder hat sie auch die beiden Völker erfasst? Wer nur ist bereit, diese Frage glaubwürdig zu beantworten…

Zwar ist Russland, der nördliche Nachbar Georgiens, auf dem Papier auch ein christliches Land. In den Gebieten nördlich der Grenze, vor allem im nordöstlich von Georgien gelegenen Tschetschenien dominiert indessen muslimische Bevölkerung.

Die Lage der Christen im Kaukasus ist zweifellos nicht komfortabel. Um so unverständlicher, dass sie ihre Minderheiten-Position in der Grossregion nicht gemeinsam verteidigen.

Kirchen
Georgien ist – wie Armenien – ein Land vieler Kirchen. Die zumeist grossartigen Kathedralen sind nach dem Abzug der Russen 1992 bereits in grosser Zahl sorgfältig und aufwändig renoviert worden.

Die Kirchen leben: Gläubige trifft man viele an. Als besuchender Tourist empfindet man sich nicht selten als Störefried angesichts der vielen, ihre Gebete verrichtenden Gläubigen. Aber die Menschen sind immer freundlich, immer ausgesprochen höflich.

Seit Georgien unabhängig ist, wird die Geschichte Georgiens offensichtlich wieder bewusst gepflegt. Die Reiseführerin weiss zur Geschichte des Landes viel mehr zu erzählen, als der Besucher aufnehmen kann. Die Hinweise auf die vielen sorgfältig renovierten Zeugen der Vergangenheit reissen nicht ab. Und die für die Geschichte des Landes wichtigen historischen Stätten, zumeist Klosteranlagen, werden von Schulklassen ohne Zahl besucht. Es ist offensichtlich Programm der Regierung, die Jugend Georgiens intensiv mit der Geschichte des eigenen Landes vertraut zu machen.

Auch die Volksfrömmigkeit beeindruckt den Besucher. Die Georgier, die von irgend einer Verpflichtung getrieben eine Kirche passieren müssen, ohne diese für eine kurze Zeit der Einkehr betreten zu können, halten in ihrem Gang sehr oft rasch inne, wenden sich der Kirche zu, bekreuzigen sich, verneigen sich und gehen erst nach dieser kurzen Geste der Bindung an ihre Kirche ihrer Wege.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch