Durch Täuschungsmanöver zum EU-Vollbeitritt?

Die EU-Osterweiterung und die Schweiz
Vortrag an der AUNS-Mitgliederversammlung am 17. Mai 2003 in Bern

Vor wenigen Wochen sind am EU-Gipfel von Athen die Würfel gefallen: Die Osterweiterung der Europäischen Union wird Tatsache. Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und der griechische Teil Zyperns werden EU-Mitglieder werden. Die Europäische Union wird 1907 also 25 Mitgliedländer umfassen.

Problem «Personenfreizügigkeit»

Der Entscheid zur Erweiterung der EU hat grosse Auswirkungen auf die Schweiz, insbesondere auf die am 21. Mai 2000 vom Schweizer Souverän beschlossenen Bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU. Sechs dieser sieben Verträge werden automatisch auf die zehn EU-Neumitglieder ausgeweitet. Für den siebten Vertrag, jenen über die heikle Frage der Personenfreizügigkeit ­ also der gegenseitigen Grenzöffnung für alle Bürger ­, besteht eine besondere Regelung, die der Schweiz jetzt besondere Probleme beschert.

Besonders am Abschluss des Personenfreizügigkeits-Vertrags war, dass dieser nicht mit Brüssel allein, sondern zusätzlich noch mit jedem EU-Mitgliedstaat einzeln abgeschlossen werden musste. Diese Besonderheit hat der Bundesrat seinerzeit als für die Schweiz vorteilhaft bezeichnet, weil damit die automatische Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf später der EU beitretende Neumitglieder verunmöglicht werde. Im Fall einer EU-Erweiterung könne vielmehr mit jedem Beitrittsland separat ein eigener Freizügigkeitsvertrag ausgehandelt werden. Selbst die Option des Verzichts auf einen solchen Vertrag mit einzelnen EU-Neumitgliedern hätte damit bestanden.

Der Abstimmungskampf vom 21. Mai 2000 über die Bilateralen wurde durch diese Zusicherung der Landesregierung entscheidend entschärft: Der Bundesrat gab damit dem Schweizervolk ­ er hat dies im Abstimmungskampf auch mehrfach betont ­ das verbindliche Versprechen ab, dass die mit den fünfzehn «alten» EU-Mitgliedern ausgehandelte Personenfreizügigkeit niemals automatisch auf neue, erst nach dem Jahr 2000 der Europäischen Union beitretende Mitglieder ausgeweitet werden könne. Ein Versprechen, ohne welches am 21. Mai 2000 ein Ja an der Urne zu den Bilateralen I kaum Tatsache geworden wäre. Ein Versprechen, welches noch heute gilt.

Versprechen gebrochen

Allerdings: Der Bundesrat will heute von diesem vor erst drei Jahren ­ damals abstimmungsentscheidend ­ abgegebenen Versprechen nichts mehr wissen. Dies hat brisante Konsequenzen.

Noch bevor die EU den formellen Erweiterungsbeschluss in Athen nämlich gefällt hatte, meldete Brüssel in Bern bereits Ansprüche an, die aus der bevorstehenden EU-Erweiterung abgeleitet werden: Brüssel erwarte von der Schweiz die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen mit allen zehn EU-Mitgliedschaftskandidaten über rasch abzuschliessende Personenfreizügigkeits-Abkommen. So lautete die Brüsseler Botschaft. Diese Abkommen, liess Brüssel Bern im weiteren wissen, dürften sich materiell in keiner Art und Weise unterscheiden von jenen Freizügigkeits-Abkommen, die heute mit den fünfzehn bestehenden EU-Mitgliedern in Kraft seien. Verhandlungsspielraum würde allenfalls zugestanden bezüglich Übergangsfristen sowie bezüglich der Kontingente, welche für die Zeit der mit jedem Kandidaten einzeln auszuhandelnden Übergangsfristen in gegenseitigem Einvernehmen festgelegt werden könnten. Sonstige inhaltliche Abweichungen von den mit den fünfzehn jetzigen EU-Mitgliedern vereinbarten Freizügigkeitsabkommen dulde Brüssel nicht. So liess Brüssel Bern wissen. Und Bern scheint bereit zu kuschen.

«Dialog» à la Brüssel

Die devote Haltung Berns erklärt sich dadurch, dass Brüssel sein herrisch vorgetragenes Ansinnen gleich noch mit einer happigen Drohung unterlegt hat: Falls sich die Schweiz der Forderung Brüssels widersetze, würden die bereits vereinbarten und in Kraft gesetzten Bilateralen I zu Makulatur. Brüssel würde diese Verträge umgehend kündigen.

Brüssels Vorgehen verspricht Erfolg. Der Bundesrat ist offensichtlich bereit, klein beizugeben. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der Bundesrat sogar klammheimlich darüber freut, dass er durch Brüssel nach allen Regeln der Kunst dazu gezwungen wird, gegenüber dem Schweizer Souverän wortbrüchig zu werden und seinen offenkundigen Wortbruch mit der aus Brüssel drohenden «höheren Gewalt» rechtfertigen zu können.

Die Berner Ausrede, es gebe angesichts der Brüsseler Übermacht keine Alternative zum feigen Nachgeben, ist in Wahrheit ebenso hohl wie sachlich unzutreffend. Brüssel und die Schweiz haben sich während der Phase der Ratifizierung der Bilateralen I ­ für die Schweiz war dies die Phase von Referendum und Abstimmungskampf ­ laufend und akribisch über alle Entwicklungen, über alle angestrengten Schritte und Massnahmen orientiert. Brüssel kannte haargenau das vom Bundesrat gegenüber dem Souverän abgegebene Versprechen betreffend EU-Erweiterung und Personenfreizügigkeit. Brüssel hat diese Vertragsauslegung des Bundesrats nie als unzutreffend oder gar vertragsverletzend bezeichnet, und Brüssel weiss so gut wie Bern, dass die Bilateralen I ein in sich abgeschlossenes, korrekt die damalige Rechtslage beider Parteien einhaltendes, ausgewogenes, keine Seite benachteiligendes Vertragswerk darstellen. Ein Vertragswerk, das zwar jederzeit in gegenseitigem Einverständnis erweitert werden kann, dessen Weiterbestehen indessen niemals von widerspruchslosem Eingehen eines Partners auf ihm vom Vertragsgegner ultimativ unterbreitete Vertragserweiterungen abhängig gemacht werden kann und darf.

Bern kuscht

Das völkerrechtliche Prinzip «pacta sunt servanda» («Verträge sind einzuhalten») gilt auch für alle im Rahmen der Bilateralen I beiderseitig eingegangenen Verpflichtungen. Einen Vertrag wegen Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses keine Gültigkeit hatten, mit erpresserischer Absicht einfach auffliegen zu lassen, ist völkerrechtswidriger Vertragsbruch. Allerdings wäre die Schweiz zur völkerrechtskonformen Zurückweisung der Brüsseler Ansinnen auf eine Landesregierung angewiesen, die den angedrohten Vertragsbruch in Brüssel auch schnörkellos und unerschrocken als völkerrechtswidrig ansprechen und zurückweisen würde. Und von einer solchen Landesregierung ist leider weit und breit nichts zu sehen.

Wer sich, wie gegenwärtig der Bundesrat, dem Brüsseler Druck zu beugen bereit ist, der lässt sich entweder übertölpeln ­ oder er erweist sich als Komplize in einem abgekarteten Spiel ­ etwa nach dem Motto: Wenn der Schweizer Souverän in offener Abstimmung dem vom Bundesrat gefassten «strategischen Ziel EU-Beitritt» schon eine Absage zu erteilen sich getraut, dann soll er eben erfahren, dass der Bundesrat sein «strategisches Ziel» hinter dem Rücken des Volkes anpeilt.

Das Referendum ist möglich

Damit zeichnet sich ein Szenario ab, das der Schweiz schon in naher Zukunft eine Volksabstimmung ermöglichen könnte über das «strategische Ziel EU-Beitritt», wie es der Bundesrat im Alleingang festgelegt hat.

Die zehn Personenfreizügigkeits-Abkommen, welche der Bundesrat unter dem Druck Brüssels mit den zehn EU-Beitrittskandidaten demnächst abschliessen will, sollen nach Ausarbeitung dem Parlament in einem dem fakultativen Referendum unterstehenden Bundesbeschluss unterbreitet werden. Wird das Referendum gegen diesen Bundesbeschluss ergriffen, dann muss der Bundesrat, der sich der Brüsseler Drohung unterzieht, dem Volk eine Abstimmungsvorlage präsentieren, bei der faktisch zwischen der Aufrechterhaltung der auf alle zehn EU-Beitrittskandidaten ausgedehnten Bilateralen Verträge I oder der Aufhebung dieser Verträge zu entscheiden ist. Ein solches Grundsatz-Referendum über Beibehaltung oder Annullierung der Bilateralen I wurde dem Souverän bekanntlich bereits für das Jahr 2009 ­ zwei Jahre nach der vollen Umsetzung aller Vertragsbestimmungen zur Personenfreizügigkeit ­ in Aussicht gestellt. Jetzt eröffnet sich plötzlich die Möglichkeit, eine Volksabstimmung zu diesen Grundsatzfragen bereits im Jahr 2004 herbeizuführen. Eine überaus verlockende Möglichkeit, zumal Frau Bundesrätin Calmy-Rey im Zeichen der von ihr gelebten Transparenz in der Aussenpolitik in ihrem kürzlich gehaltenen Vortrag «100 Tage im Amt» ausdrücklich vermerkt hat, der Bundesrat betrachte die Bilateralen Verträge ohne Wenn und Aber als Etappen zum EU-Vollbeitritt. Auch wenn sich der Bundesrat ­ inklusive Aussenministerin ­ von dieser offenbar etwas voreilig geübten Transparenz eilfertigst distanzierte, so hat der Souverän dennoch die Chance, bereits im Jahr 2004 über Abbruch oder Weiterführung des bundesrätlichen «EU-Trainingslagers» entscheiden zu können.

Brüssels Geldhunger

Dass die EU-Osterweiterung, also die Aufnahme von zehn wirtschaftlich weit zurückgebliebenen Neumitgliedern in den Europäischen Binnenmarkt, der EU Milliardenlasten in heute noch nicht im entferntesten abschätzbarem Umfang aufbürden wird, wird von niemandem bestritten. Sicher ist erst, dass der EU-Strukturfonds, geschaffen zur Herbeiführung eines wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen den volkswirtschaftlich teilweise sehr ungleichen EU-Mitgliedern, alljährliche Ausgleichszahlungen in der Höhe zweistelliger Milliardenbeträge ­ in Euro! ­ wird leisten müssen. Exakte Berechnungen existieren in Brüssel dazu zwar noch keine. Dennoch werden bereits happige Forderungen angemeldet. Dabei will Brüssel eine Lastenverteilung durchsetzen, die auch Nicht-EU-Mitglieder zugunsten der EU-Osterweiterung massiv zur Kasse bittet.

Auch die Schweiz hat von Brüssel bereits eine entsprechende Beteiligungs-Aufforderung erhalten, wenn vorderhand auch noch ohne Zahlen. Bundesrat Villiger bereitet das Parlament allerdings auf eine sehr substantielle Forderung aus Brüssel vor. Dabei drängt sich ein Vergleich mit Norwegen auf. Norwegen ist nicht EU-Mitglied, gehört allerdings dem EWR an. Heute leistet Norwegen jährliche Beiträge an den EU-Strukturfonds in der Höhe von 30 Millionen Euro (ca. 45 Millionen sFr.). Als Folge der EU-Osterweiterung hat Brüssel gegenüber Norwegen eine Forderung in der Grössenordnung von 500 bis 700 Millionen Euro (750 bis 1050 Millionen sFr.) zugunsten des EU-Strukturfonds angemeldet ­ was einer glatten Verzwanzigfachung der bisherigen Belastung entspricht.

Der Schweizer Stimmbürger weiss damit: Er wurde im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung nicht nur bezüglich der Personenfreizügigkeit regelrecht hereingelegt. Er wird als Folge dieser EU-Osterweiterung zusätzlich auch noch eine äusserst gesalzene Rechnung präsentiert erhalten. Zweifellos ein leckeres Umfeld für eine interessante, heisse Auseinandersetzungen versprechende Volksabstimmung, bei der es darum geht, den Bundesrat seinem «strategischen Ziel» gemäss aus seinem Trainingslager weiter Schritt für Schritt zum EU-Vollbeitritt aufsteigen zu lassen ­ oder ihn zum Abstieg zu zwingen.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch