Frontalangriff auf die Gemeindeversammlung

Die Feinde der Demokratie setzen sich durch
Nationalrats-Votum vom 2. Oktober 2007

Im Rahmen der Beratung des neuen Bürgerrechtsgesetzes (Parlamentarische Initiative von Ständerat Thomas Pfisterer) beantragte eine Mehrheit der Staatspolitischen Kommission dem Nationalrat eine gesetzliche Bestimmung, wonach ein in einer Gemeindeversammlung gestellter Ablehnungsantrag zu einem Einbürgerungsgesuch nur dann zugelassen werden dürfe, wenn der Antragsteller eine schriftliche Begründung zum Ablehnungsantrag vorlegen könne. Der Ständerat wollte im Gegensatz zum Nationalrat auch die mündliche Begründung zulassen. Mit einem - von der SVP breit unterstützten - Einzelantrag forderte Nationalrat Ulrich Schlüer den Nationalrat auf, wenigstens der ständerätlichen Fassung den Vorzug zu geben. Sein Votum im Wortlaut:

Todesstoss für die Gemeindeversammlung

Ich möchte Ihnen mit meinem Antrag beliebt machen, bezüglich Gemeindeversammlungsentscheid über Einbürgerungen wenigstens dem Ständerat zu folgen und die spontane Begründung eines Ablehnungsantrags in der Gemeindeversammlung selbst noch zuzulassen.

Ich möchte zunächst daran erinnern: In der Abstimmung über die neue Bundesverfassung von 1999 wurde die Erteilung des Bürgerrechts als freier, politischer Entscheid ohne Rekursrecht bestätigt. Diese Regelung wurde den Bürgerinnen und Bürgern ganz klar als völkerrechtskonform ebenfalls bestätigt. Das Bundesgericht hat dann vier Jahre später etwas völlig anderes gemacht, für welches bis heute die Verfassungsgrundlage fehlt. Das müssen wir einfach wissen.

Es gibt offenbar viele Leute hier im Saal, die die Gemeindeversammlung als etwas Feindseliges betrachten. Es sei nicht berechenbar, was dabei herauskomme, haben wir gehört; man müsse sie bändigen, der freie demokratische Entscheid darf offenbar nicht sein. Dass Bürger sich in der Gemeindeversammlung auch spontan, aufgrund des Verlaufs einer Diskussion, entscheiden und das dann auch mündlich begründen, soll nicht mehr zulässig sein. Spontane demokratische Teilnahme - wo käme man denn da hin? Das darf man nicht zulassen.

Frontalangriff auf den freien Bürger

Als ich Frau Roth-Bernasconi hörte, hatte ich den Eindruck, das Parlament feiere mit Freude die Entmachtung des unberechenbaren Bürgers. Natürlich ist der Bürger unberechenbar, weil er ein freier Mann, eine freie Frau ist und sich aufgrund der persönlichen Meinungsbildung entscheiden darf. In diesem Zusammenhang von "Tyrannei der Mehrheit" zu sprechen in einem Land mit direkter Demokratie, das ist allmählich schon sehr alarmierend.

Der Ständerat will bezüglich Einbürgerungen Gemeindeversammlungsentscheide so zulassen, wie sie in Gemeindeversammlungen üblicherweise geschehen, so, wie Gemeindeversammlungen eben funktionieren: Bürger kommen zusammen, diskutieren ein Problem, hören sich Meinungen an, stellen danach möglicherweise Anträge, die sie dann auch persönlich begründen. Die Kommissionsmehrheit will jetzt einführen, dass derjenige, der einen Antrag stellen will, bereits von zuhause mit der schriftlichen Begründung anmarschieren und diese dann in der Versammlung vorlegen muss.

Damit zerstören Sie die Gemeindeversammlung. Wer deren Mechanismen kennt und weiss, welch wertvolle demokratische Institution sie ist, der kann Ihnen sagen, dass das, was Sie wollen, der Gemeindeversammlung wesensfremd ist: Niemand trägt in Erwartung einer Diskussion, die er noch gar nicht kennt, bereits eine schriftliche Begründung für seinen Antrag mit sich herum. Wer nur kann etwas einer Gemeindeversammlung so Wesensfremdes verlangen! Nur, wer damit die Gemeindeversammlung, den freien Entscheid in dieser Versammlung abwürgen will.

Apparatschick-Staat verdrängt Demokratie

Es kommt vor, dass eine Gemeindevorsteherschaft nur lückenhaft über ein Einbürgerungsgesuch orientiert worden ist. Es gab letzthin einen Fall in Frauenfeld, bei dem ein Mitglied der Einbürgerungskommission, also eines Ausschusses des Parlamentes, beklagte, man sei über eine Person nicht vollständig informiert worden, worauf es sich von einem Richter sagen lassen musste, das gehe auch nicht, sonst würde er ja auch erfahren, was der Einzubürgernde für Vorstrafen habe.

Genau das aber will und darf der Bürger wissen! Und wenn solches allenfalls jemand an einer Gemeindeversammlung weiss und sagt und ein Bürger aufgrund solcher Information einen Antrag zur Ablehnung eines Gesuchs stellen will, dann ist das doch sein gutes, demokratisches Recht, und der Staat erlebt damit erst noch, dass man etwas für die Aufrechthaltung seiner Ordnung Wertvolles leistet. Und genau das will die Mehrheit hier abwürgen?

Ich muss Ihnen schon sagen: Wenn Sie das tun, bringen Sie damit höchstens Ihre abgrundtiefe Geringschätzung der Demokratie gegenüber zum Ausdruck. In Artikel 34 Absatz 2 der Bundesverfassung ist jedem Bürger und jeder Bürgerin im Rahmen der Ausübung der politischen Rechte "die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe" zugesichert. Doch wenn es um Einbürgerungen geht, wollen Sie den Bürger fesseln, wollen Sie ihm nur Anträge erlauben, wenn er eine schriftliche Begründung dazu bereits von zuhause mitgebracht hat.

Antrag

Kehren Sie wenigstens zur partiellen Vernunft zurück, und übernehmen Sie den Beschluss des Ständerates.

Nachfrage

Später in der Debatte gestellte Zwischenfrage an die Kommissionssprecherin:

Frau Kommissionssprecherin, wenn Sie hier das Bild der schreibenden Gemeindeversammlung entwerfen, möchte ich Sie fragen: Wann waren Sie das letzte Mal an einer Gemeindeversammlung?

Aus der Antwort ging hervor, dass die Kommissionssprecherin, aus einer Gemeinde mit Gemeindeparlament stammend, noch nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen hat.

Ulrich Schlüer

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch