Anpassung der Genfer Konvention

Eine Folge des Kosovo-Krieges
Interpellation vom 21. März 2000

Die von der Nato im Kosovo und gegen Serbien in der ersten Jahreshälfte 2000 angewandten Kriegsformen veranlassten Nationalrat Ulrich Schlüer am 21. März 2000 zu folgender Interpellation:

Moderne Technologie gestattet heute eine Kriegsführung, welche sowohl die Truppen als auch das Material von eingesetzten Armeen maximal schützt, die Zivilbevölkerung im Kriegsgebiet aber weitgehend ungeschützt dem Kriegsgeschehen aussetzt. Das in den Genfer Konventionen, insbesondere in Konvention IV zum Schutz der Zivilbevölkerung vom 12. August 1949 festgehaltenen Ziel, der Zivilbevölkerung auch im Kriegsfall maximal denkbaren Schutz zukommen zu lassen, wird damit nahezu in sein Gegenteil verkehrt. Ich frage daher den Bundesrat an:

1. Was für Schlussfolgerungen zieht der Bundesrat im Blick auf eine Fortentwicklung der Genfer Konventionen aus Erfahrungen moderner Kriegsführung, die Armeen maximal schont, die Zivilbevölkerung um so ungeschützter dem Kriegsgeschehen aussetzt?

2. Plant der Bundesrat, dem als Regierung des Sitzstaates des IKRK besondere Verantwortung für die Rotkreuz Konventionen zukommt, konkrete Schritte zur Weiterentwicklung der Genfer Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung, damit dieser Schutz an die Realitäten moderner Kriegführung angepasst wird?

3. Wenn Ja: Wie sehen diese konkreten Schritte aus?

Begründung

Mit den aus der Rotkreuz-Idee gewachsenen Genfer Konventionen sollte bekanntlich weltweit erreicht werden, unschuldigen Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen besonderen Schutz zukommen zu lassen. Das IV. Genfer Abkommen, datiert vom 12. August 1949, sagt diesen besonderen Schutz ausdrücklich auch der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten zu. Im Lauf der Jahrzehnte ist es auch gelungen, den Zielsetzungen der Genfer Konventionen Schritt für Schritt welt-weiten Respekt zu verschaffen.

Weil diese Konventionen bereits mit ihrem Namen eine besonders enge Verbindung zur Rotkreuz-Stadt Genf zum Ausdruck bringen, leitete der Bundesrat seit Schaffung dieser Konventionen eine besondere Verantwortung für die Schweiz ab, für Gehalt und Ziele der Genfer Konventionen einzutreten. Mit ihrer humanitären Aussenpolitik, mit ihrer jahrelang konsequent verfolgten Politik der Neutralität und der daraus resultierenden besonderen Befähigung zur Leistung Guter Dienste hat die Schweiz diese Verantwortung umgesetzt.

Im Zuge dieser langfristig angelegten humanitären Aussenpolitik ist die Schweiz auch besonders herausgefordert, wenn neue Formen der Kriegsführung die Genfer Konventionen ihres Sinnes und ihres Anliegens zu berauben drohen. Mit einer solchen Entwicklung sind die Genfer Konventionen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegsgebieten heute konfrontiert. Der Einsatz moderner Technologie bewirkt, dass für Armeen und Kriegsmaterial auch bei gewaltsamer Konfliktaustragung maximaler Schutz garantiert werden kann. Anderseits treffen moderne Kriege im Gefolge des Einsatzes von elektronisch äusserst präzise geführten Luftstreitkräften zumindest Teile der Zivilbevölkerung im Zielgebiet mit uneingeschränkter Härte. Kriegerische Auseinandersetzungen in den Neunzigerjahren liefern zu dieser Entwicklung Beweismaterial in wachsender Fülle. Überlegene, präzise Luftkriegführung hat im weiteren dazu geführt, dass unterlegene Angegriffene zunehmend in Versuchung gerieten, ihre Unterlegenheit dadurch auszugleichen, dass sie Zivilbevölkerung durch lokale oder regionale Umsiedlung oder andere Massnahmen unmittelbar und bewusst den Luftangriffen aussetzen, weil sie sich dadurch schockierendes Bildmaterial für indirekte Kriegführung via Massenmedien versprechen. Ein Vorgehen, das in krassem Widerspruch zu den Genfer Konventionen steht.

Bis heute sind abgesehen von allgemeinen Äusserungen der Besorgnis keinerlei Initiativen sichtbar geworden, das Kriegsvölkerrecht bzw. die Genfer Konventionen an diese neuen Möglichkeiten technologischer Kriegsführung und die daraus resultierenden Folgen für die Zivilbevölkerung anzupassen. Solche Initiativen wären indessen dringend erforderlich, sollen die Genfer Rotkreuz-Konventionen nicht einem Prozess der fortschreitenden Aushöhlung ausgesetzt werden. Kein anderes Land als die neutrale Schweiz ist geeigneter, die Initiative zur Anpassung der Rotkreuz-Konventionen an das moderne Kriegsbild an die Hand zu nehmen.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch