Der Weg aus der Krise


Schweizer Volksschule

Vortrag, gehalten am SVP Sonderparteitag "Bildung" 23. Oktober 2010 in Liestal

In dreijähriger intensiver Arbeit in Arbeitsgruppen, in Diskussionsteams, in Fachgruppen hat die SVP ein Grundlagenpapier zur Volksschule erarbeitet, das bezüglich der Gründlichkeit, mit der alle für die Volksschule relevanten Probleme beleuchtet werden, unter den Grundlagenpapieren aller Parteien wohl seinesgleichen sucht. Das Grundlagenpapier wurde den Zuhörern wie folgt vorgestellt:

Die Krise der Volksschule ist nicht eine theoretische, sie ist eine mit Händen zu greifende Krise. Das Bildungsniveau sinkt in der Schweiz. Die Klagen der Lehrmeister über den immer dürftiger ausgestatteten Rucksack ihrer Lehrlinge füllen Bände. Die Hochschulen registrieren dramatischen Rückgang an im internationalen Wettbewerb bestehenden Akademikern, die ihr Rüstzeug aus Schweizer Volksschulen mitbringen müssten. Unsere Industrie beklagt klaffende Lücken im Nachwuchs an Naturwissenschaftern. Könnten mit hohen Löhnen nicht junge Techniker, Ingenieure, naturwissenschaftliche Forscher aus aller Herren Länder in die Schweiz geholt werden, so wäre der Forschungsplatz Schweiz mangels eigenem Nachwuchs längst ausgeblutet.

Unsere Bildungsfunktionäre scheinen diese Hiobsbotschaften aus der Arbeitswelt nicht zu kümmern. Sie basteln weiter an ihren Modellen, träumen von ihrem computergesteuerten, im wahren Sinn des Wortes entmenschlichten Einheitssystem, das Pädagogen zu Stoffvermittlungs-Funktionären erniedrigt und Schüler zu Normeinheiten mit gewissem Therapiebedarf. Damit das entmenschlichte System schliesslich aufgeht, wollen die Funktionäre alle Kinder ab frühester Kindheit elterlicher Erziehung, elterlicher Zuneigung, elterlicher Begleitung entreissen.

Die Arbeit am SVP-Volksschulpapier konnte auf das Datum des heutigen Parteitags abgeschlossen werden. Die Arbeit für die SVP beginnt damit. Sie erkennen: Zu jeder wichtigen Frage, welche die Volksschule, welche die Eltern von Volksschülern heute bewegen, finden sich im SVP-Papier eigenständige, von der SVP gründlich erarbeitete Standpunkte. Meist Gegen-Standpunkte zur offiziellen Doktrin der Bildungsfunktionäre, die sich – um sich von jeglicher parlamentarischen Kontrolle zu befreien – als Reformtreiber im Apparat der Erziehungsdirektoren-Konferenz eingenistet haben.

Zentralisierung

Noch vor drei Jahren hat sich keine schweizerische Partei auf schweizerischer Ebene mit der Volksschule befasst. Die Volksschulpolitik war, jedenfalls in der SVP, bei den kantonalen Sektionen in guten Händen – solange Volksschulpolitik der kantonalen Hoheit unterstand.

Wesentliche Elemente der Volksschulpolitik wurden den kantonalen Parlamenten aber entrissen. Manch kantonales Parlament hat nicht einmal registriert, in welchem Ausmass ihm Hoheit über die Volksschule geraubt wurde, seit die Funktionäre der Erziehungsdirektoren-Konferenz sich reglementierend, dekretierend und bürokratisierend über die Volksschule herzumachen begannen. Reformitis haben sie der Volksschule verordnet. Weil das Ziel angesichts der unzähligen, nebeneinanderher eingeleiteten, einander oft widersprechenden Reformen aus den Augen verloren wurde, hat die Reformitis Schule und Lehrer zunehmend zermürbt.

Die Reformen wurden von Ideologen diktiert, die behaupteten, ihren Forderungen lägen «wissenschaftlich unterlegte Erkenntnisse» zugrunde. Das war politische Falschmünzerei. Linke, gesellschaftskritische, familien- und autoritätsfeindliche Dogmen waren der Motor zur Reformitis. Die behauptete Wissenschaftlichkeit war löchriger Deckmantel. Die apodiktische Aussage, wonach aus früh mit Wissen vollgepfropften jungen Hirnen weit gescheitere Menschen entstünden, erwies sich als haltloser Unsinn.

Zorn und Frust

Die Reformitis hinterlässt erboste Eltern und frustrierte Lehrer. Die Lehrerbildung wurde auf unwirklich akademisiertes Niveau hochstilisiert. Genügenden Lehrer-Nachwuchs für die Volksschule vermögen die Pädagogischen Hochschulen freilich nicht im entferntesten zu garantieren. Ohne Quereinsteiger, die den Bildungsweg um die Pädagogischen Hochschulen herum offensichtlich mit Begeisterung wählen, wäre die Volksschule längst am Lehrermangel zugrunde gegangen. Der Tatsache, dass Schulführung in erster Linie nach Führungsqualitäten verlangt, verschliessen sich die Ideologen der Erziehungsdirektoren-Konferenz ebenso beharrlich wie Schaden stiftend.

Alljährlich wenden Hunderte überforderter, zumeist junger Lehrer und Lehrerinnen ihrem Beruf nach kurzer Einsatzzeit frustriert den Rücken. Während das Dogma, fortan nur noch Akademikern Einlass in Schulzimmer als Lehrer zu gestatten, Schiffbruch erlitt, müssen neuerdings zwangsläufig Loblieder angestimmt werden auf Quereinsteiger, die dann, wenn sie über Führungsqualitäten verfügen, der Schule tatsächlich Erleichterung vor allen sich auftürmenden Problemen verschaffen.

Computer oder Pädagogen

Aber was soll man mit den Pädagogischen Hochschulen als Leitfossile der gescheiterten Akademisierung der Lehrer-Ausbildung anfangen? Man wollte den Lehrer zum «Theorie-Gelehrten» erheben. Doch weil die Praxis die Theorie Lügen straft, bewirkte man bloss den Exodus zu vieler Lehrkräfte. Und der Lehrerberuf wurde zum Tummelfeld für Teilzeit-Strategen, womit die Verantwortung für Klassen und Schüler irgend welchem abstraktem Team-Teaching zugeschrieben werden kann – wobei niemand mehr persönliche, konkrete Verantwortung für Schüler und Klasse übernehmen muss. Deren Bewertung übernähmen, wird behauptet, Computerprogramme, für jeden Schüler ein «Portfolio» herzaubernd.

Dabei braucht der Schüler, wenn er in der Volksschule körperlich und geistig wachsen will, die Auseinandersetzung mit einer Persönlichkeit, mit einem Pädagogen, der sich vollumfänglich und vorbehaltlos – nicht im Teilzeitjob – für ihn einsetzt. Der ihm als Mensch, als Pädagoge Bildung vermittelt, auf dass er als junger Mensch, als Schüler in der steten Auseinandersetzung mit der ihn zur Bildung führenden Persönlichkeit an Arbeitshaltung, an Können und Wissen und an Leistungsbereitschaft gewinnen kann.

Unsinnige Kontrollbürokratie

Schwer geschadet hat der Volksschule der Gleichheitswahn, der die Bildungsbürokraten – ohne dass sie vom Souverän dafür je einen Auftrag erhalten hätten – in «kollektivem Fieber» erfasst zu haben scheint. Um diesen Gleichheitswahn umzusetzen, wurde eine Kontrollbürokratie in fieberhafter Hektik aufgebaut, die heute, einem Spinnennetz gleich, die ganze Volksschule regelrecht in Gefangenschaft hält. Zutiefst frustrierte Lehrer, gezwungen, unablässig von Absprachesitzung zu Absprachesitzung zu hetzen und daneben unendlich Formulare auszufüllen, verlieren alle Freude an ihrem Beruf. Der Lehrerberuf, der dem begabten und engagierten Pädagogen einst grosse unternehmerische Freiheit in der Unterrichtsgestaltung gewährt hat, der damit für viele zum Traumberuf wurde, steckt im Nivellierungs-Ghetto geisttötender Bürokratisierung.

Wer nach Besserung ruft, muss dem Lehrer mehr Freiraum sichern. Er muss ihm ermöglichen, als engagierter Pädagoge im Klassenzimmer tätig zu sein – mit der Jugend, nicht mit dem Computer, nicht mit Stössen von Formularen vor Augen. Selbstverständlich müssen dem Lehrer Ziele gesetzt werden, die er im Unterricht mit seinen Schülern – mit allen Schülern – zu erreichen hat. Aber der Weg zu den Zielen soll seiner freien Unterrichtsgestaltung überlassen bleiben. Völlig falsch wäre es, der Forderung nach Reduzierung der Unterrichtsstunden für Lehrer nachzugeben. Das Gegenteil ist anzustreben. Die Bürokratie ist zu reduzieren, möglichst auszumerzen. Der Lehrer gehört in die Klasse, nicht ins Formular-Gefängnis.

Kinder sind nicht Versuchsobjekte

Eine weitere Forderung ist überfällig: Schluss mit dem Missbrauch von Kindern und Schülern als Versuchsobjekte ideologisch motivierter Reformer, denen Autoritätszerstörung wichtigstes Anliegen ist. Es ging und geht diesen «Reformern» um die Zerschlagung der von ihnen aus ideologischen Gründen abgelehnten traditionellen Familie. Es ging ihnen um die Untergrabung der Lehrer-Autorität. Die Ruinen des von ihnen verursachten Desasters sind unübersehbar. Die Hinwendung zur Wirklichkeit ist überfällig.

Wenn Erziehung – häusliche Erziehung ebenso wie Bildungsvermittlung in der Schule – gelingen soll, müssen sich Schülerinnen und Schüler an Persönlichkeiten orientieren können. Junge Menschen sind nicht auf Computer ausgerichtete Kollektivwesen. Junge Menschen verlangen nach Orientierung. Nach Orientierung, die ihnen nur Persönlichkeiten vermitteln können. Persönlichkeiten, die für sie Verantwortung übernehmen, deren Engagement an der Jugend die jungen Menschen spüren. Die Schweiz braucht sowohl Eltern als auch Pädagogen, die jeden Jugendlichen, jeden Schüler mit all ihren Eigenheiten auch gern haben. Das ist das Fundament, auf dem konstruktives Leisten, der Wille zur Leistung gedeiht. Leistung und Leistungsforderung sind Eckpfeiler einer von Menschen gestalteten, junge Menschen zu selbständiger Lebensgestaltung ausbildenden Volksschule.

Ulrich Schlüer


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