Israel 2012 (Teil 1)

Reisenotizen aus einer Krisenregion (Teil 1/3)
Publiziert in der "Schweizerzeit" Nr. 13 vom 6. Juli 2012

Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Israel gilt als Spannungsgebiet. Wer derzeit den Staat der Juden – gelegen inmitten des arabischen Krisengürtels südlich und östlich des Mittelmeers – bereist, trifft ein lebendiges, politisch indessen bemerkenswert ruhiges Land an.

Die Israel-Informationsreise dauerte vom 6. bis 11. Mai dieses Jahres. Das Programm sah weniger touristische Ziele, jedoch verschiedenerlei Kontakte mit Persönlichkeiten vor, welche vertieften Einblick in die gegenwärtige Lage ermöglichten. Einzelne Kontakte vermittelte auf unser Gesuch hin die israelische Botschaft in Bern. Andere kamen durch Vermittlung langjähriger Israel-Kenner zustande. Ich wurde begleitet von meinem Sohn Benjamin Schlüer; von ihm stammen die Bilder.

Die Reise begann in und um Jerusalem, wo Besuche und Gespräche in Jerusalem selbst, in Bethlehem und in Ramallah im Vordergrund standen. Darauf reisten wir per Mietauto via Jericho an den Tiberias-See; von dort auf den Golan bis an die Nordgrenze Israels. Schliesslich wandten wir uns der israelisch-libanesischen Grenze entlang wieder gegen Süden und gelangten via Akko und Haifa zurück zum Flughafen Ben Gurion.

Grenze

Der sog. «Oslo-Prozess» – die unter Vermittlung Norwegens getroffene Gebietsabgrenzung zwischen jüdischen und palästinensischen Gebieten – prägt das heutige Israel markant. Die «grosse Mauer» wurde weltbekannt. Realität und Berichterstattung klaffen freilich auseinander.

Mit Mauern unterschiedlicher Höhe werden jene Stellen im jüdischen Teil Israels geschützt, die wiederholt Ziel von Beschiessungen und Anschlägen – auch von Raketengeschossen – wurden. Das eindrücklichste Zeugnis findet sich beim Rahel-Grab zwischen Jerusalem und Bethlehem – einer Pilgerstätte für Christen und Juden.

Dort wurden wiederholt Pilger aus allernächstgelegenen Wohnquartieren heraus beschossen. Es gab Todesfälle. Jetzt stehen beidseits dieser zum Rahel-Grab führenden Talstrasse hohe Mauern. Man wähnt sich manchmal in einer eigentlichen Schlucht. Die Höhe der Mauern – auf der einen Strassenseite acht Meter, auf der gegenüberliegenden zehn bis dreizehn Meter – muss Treffer auf Fussgänger und Autos verhindern. Heute sind die Pilger dort sicher.

Auch andere von Fussgängern – meist harmlosen Spaziergängern – frequentierte, gefährdete Stellen, aber auch zu Beschuss verleitende Strassenabschnitte sind durch «die Mauer» vor Treffern geschützt worden.

Eine durchgehende Mauer existiert aber nicht. Lediglich dort, wo Fussgänger oder Autos vor Anschlägen aus nahegelegenen Siedlungen zu schützen sind, stehen Mauern. Wo keine Gefahr durch Beschiessung besteht, steht auch keine Mauer. Die Grenze wird dort durch zwei Zäune mit dazwischenliegender Strasse und lockerem Sandboden – zwecks Spurenerkennung – markiert. Der Grenzstreifen wird elektronisch überwacht. Bewegung löst Alarm aus. Videokameras werden davon automatisch in Betrieb gesetzt. Meistens lösen Tiere den Alarm aus. Dann geschieht nichts. Versuchen Menschen die Grenze zu überqueren, wird eine Militärpatrouille ausgeschickt. Zur Kontrolle. Wer dort eine «waffenstarrende Mauer» erblickt haben will, verbreitet Desinformation. Die Mauer hat Schutzfunktion. Wo Beschiessungsgefahr nicht existiert, steht bloss der Doppelzaun.

Genfer Konventionen

Die Grenz-Ziehung mit Mauer und Doppelzaun ist eigentlich Zeugnis für die von der heutigen Kriegführung überholten Genfer Konventionen. Die Genfer Konventionen, so wertvoll sie sind, auferlegen kriegführenden Staaten Regeln, welche der Zivilbevölkerung – Alten, Frauen, Kindern – höchstmöglichen Schutz gewährleisten sollen.

Der Mangel an den Genfer Konventionen: Sie befassen sich allein mit Staaten, auferlegen ihre – zweifellos unverzichtbaren – Regeln ausschliesslich Staaten. Die bewaffneten Attacken auf Israel gehen allerdings nur selten von Staaten aus. Und die mit terroristischen Methoden operierenden Organisationen Hamas und Hisbollah sind keine Staaten, werden also von den Genfer Konventionen nicht erfasst. Hamas-Milizen haben auf Juden nicht selten aus Stellungen in bewohnten Wohnblöcken heraus geschossen. In der Nähe von Bethlehem sogar aus in christlichen Quartieren – gegen den Willen der dortigen Einwohner – installierten Geschützstellungen. Die dort wohnhaften Christen wurden als «lebendige Schilder» für die Terror-Attacken missbraucht.

Würde ein Staat solche Methoden nutzen, beginge er Kriegsverbrechen. Die Genfer Konventionen ahnden Kriegsverbrechen aber bloss als unzulässige Operationen, wenn sie von Staaten begangen werden. Terror-Organisationen bleiben unbehelligt. Obwohl Kriegshandlungen heutzutage immer weniger von Staaten, immer öfter von irgend welchen Organisationen ausgehen. Eine seit Jahren kritisierte Lücke in den Genfer Konventionen, die, wenn diese Lücke weiterhin toleriert wird, zunehmend ins Zwielicht geraten.

Die Schweiz als Sitzstaat der Genfer Konventionen müsste handeln. Seit Jahren nachdrücklich dazu aufgefordert, verharrt Bern allerdings in Passivität. Fürchtend, innerhalb der UNO mit Anstrengungen auf Modernisierung der Genfer Konventionen auf Widerstand zu stossen. Die Furcht ist berechtigt. Schliesslich ist die UNO eine politische, parteiische Institution – nicht am Recht, vielmehr an der Macht orientiert. Erfolgversprechend wäre der Weg via IKRK, via Rotes Kreuz. Dort aber will die Schweiz nicht aktiv werden – obwohl ihr längst detaillierte Vorschläge für zwar nicht sofort, doch immerhin mittel- bis langfristig erfolgversprechendes Vorgehen vorliegen.

Die Furcht, es dabei mit den islamischen Staaten zu verderben, lähmt Bern. Denn Bern glaubt, zur Ergatterung hoher Posten für Schweizer in der Uno-Hierarchie auf die Stimmen der islamischen Staaten angewiesen zu sein. So lässt die Schweiz eine weltpolitische Errungenschaft, welche die Genfer Konventionen anlässlich ihrer Schaffung darstellten, langsam verkümmern.

Israel zu kritisieren ist attraktiver und einfacher als Änderungen einzuleiten zwecks umsichtiger, Schritt für Schritt voranschreitender Reform der Genfer Konventionen.

Drei Zonen

Im Rahmen der Konflikt-Entschärfung zwischen Israelis und Palästinensern wurde Israel im sog. «Prozess von Oslo» in drei Zonen aufgeteilt.

In der A-Zone (in welcher zum Beispiel Bethlehem, Ramallah, Jericho liegen) befinden sich die allein den Palästinensern überlassenen Orte und Städte. Juden dürfen in der Zone A nicht leben. Sie benötigen dafür eine Zutrittsbewilligung.

Abenteuer erlebt der Autofahrer: Will er mittels GPS zum Beispiel in den A-Ort Jericho gelangen, stellt die Navigationsanlage mit dem Fahrer alles Erdenkliche an. Er gelangt per GPS aber nie nach Jericho. Weil, wie ihm beim elektronisch gesteuerten Umherirren auf den Strassen in und um Jerusalem allmählich zu dämmern beginnt, A-Orte im Datenverzeichnis des GPS für Israel gar nicht gespeichert sind.

B-Zonen sind gemischte Zonen, Zwischengebiete. Sie werden sowohl von Israelis als auch von Palästinensern bewohnt und genutzt. Israel ist in den B-Zonen zuständig für die Gewährleistung der Sicherheit, die Palästinenser stellen die zivile Verwaltung. Nahezu alle sog. «israelischen Siedler» leben in der B-Zone.

Die C-Zonen sind den Juden reserviert. Palästinenser haben ohne Bewilligung keinen Zutritt. Die C-Zonen bedecken gut 60 Prozent der Landoberfläche Israels.

Mauer und Zaun grenzen die A-Zonen von den B-Zonen ab.

Jerusalem ist Sonderzone. Nach Jerusalem haben alle Einwohner Israels Zutritt. Die Sonderzone wurde mit dem Vermerk geschaffen, dass eine «genauere Regelung» aufgrund der komplizierten Ausgangslange «erst später» getroffen werde.

Die in Israel verkehrenden Autos haben farbige Nummern. Die Nummern machen kenntlich, in welchen Zonen das betreffende Fahrzeug verkehren darf. Fahrzeuge mit «falschen» Nummernschildern werden an den Checkpoints zurückgewiesen.

Kundgebung

Wir treffen in Bethlehem ein. Bethlehem liegt in der A-Zone, ist also den Palästinensern reserviert. Unser Taxi, das wir für den ganzen Tag gemietet haben, hält an auf dem grossen, belebten Platz vor der Geburtskirche.

An der Mauer zur Kirche findet irgend etwas statt, das uns zunächst nicht besonders auffällt. Die in allen Richtungen geschäftig den Platz überquerenden Passanten, zumeist Palästinenser, nehmen vom Geschehen längs der Mauer ebenso wenig Notiz wie die in grosser Zahl in Bussen herangebrachten Touristen. Transparente mit arabischen Schriftzeichen stehen an der Mauer. Auffällig ist eigentlich nur ein Lautsprecher. Aus diesem ertönt eine leidenschaftliche Rede in bedeutender Lautstärke. Man hat als Hörer, der Einzelheiten nicht versteht, den Eindruck, da erschalle eine «Brandrede». Im Schatten der Mauer und der sich dort befindlichen schattenspendenden Bäume sitzen einige Dutzend vor allem ältere Männer. Bewegungslos. In Schweigen versunken. Auf ihre Stöcke gestützt.

Wir werden dann aufgeklärt: Es fände da eine Kundgebung statt für sich im Hungerstreik befindende Palästinenser, die Israel als Terroristen in Gefängnissen festhält. Eigenartig: Mit Ausnahme des im Staccato eifernden Lautsprechers herrscht Teilnahmslosigkeit. Die alten Männer scheinen zu dösen. Die vielen Einheimischen auf dem grossen Platz nehmen von der Kundgebung kaum Notiz.

Nach dem Besuch der Geburtskirche stossen wir wieder zur Kundgebung. Sie geht gerade zu Ende. Einzelne alte Männer erheben sich, bewegen sich, zumeist an Stöcken gehend, eher mühsam und langsam weg vom Platz. Für andere sind Kleinbusse vorgefahren. Einige steigen ein – andere werden hineingehoben. Mehr als hundert alte Männer hatten der Rede gewiss nicht zugehört.

Wie soll man dieses Geschehen verstehen und werten? Der Hungerstreik der palästinensischen Häftlinge in Israel verursachte in den Weltmedien reichlich Schlagzeilen. In Bethlehem rief er Teilnahmslosigkeit hervor. Fragen wurden von angesprochenen Personen entweder gar nicht oder dann betont unverbindlich beantwortet.

Ulrich Schlüer
(Fortsetzung folgt)


(C) 2010 - 2017: Alle Rechte vorbehalten

Diese Seite drucken